Siegen. „Wer bist Du, was brauchst Du und wie können wir dabei helfen?“ Das steht im SPZ der DRK-Kinderklinik Siegen oben, sagt Chefarzt Dr. Holger Petri

Bei weniger als 5 von 10.000 Betroffenen spricht man von einer sehr seltenen Erkrankung. Aber alle Betroffenen zusammen sind sehr viele: Mehr als 6000 dieser Erkrankungen gibt es, geschätzt vier Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer davon; oft Kinder und Jugendliche. Eine ist das Angelman-Syndrom. Jetzt fand der deutschlandweit erste Angelman-Tag statt.

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Geistige und körperliche Einschränkungen, Störungen der Bewegungs- und der Sprachentwicklung sowie des Verhaltens sind bei Erkrankungen wie dem Angelman-Syndrom Folgen einer Veränderung der Chromosomen. Viele seltene Erkrankungen wurden nach ihren Entdeckern benannt: Der englische Kinderarzt Henry Angelman beschrieb das Syndrom 1965 erstmals, zunächst aufgrund des auffälligen Bewegungsmusters und des häufigen Lachens der Kinder als „Happy-Puppet-Syndrom“ („Glückliche Puppe“, Red.). Das Angelman-Syndrom geht oft einher mit Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Behinderungen, einer stark reduzierten Sprachentwicklung und überdurchschnittlicher Fröhlichkeit, die oft unbegründet wirkt, etwa weil sie auch bei Aufregung und Stress auftritt.

Familie Stücher hatte großes Glück mit ihrem Kinderarzt – und zog ihm sogar hinterher

Irgendwann fragten sich Lisa Mareile und Niclas Stücher: „Was hat unsere Tochter?“ Anfangs wirkte es noch wie eine „normale“ Entwicklungsverzögerung: Die heute 4-jährige Mia hatte zum Beispiel Probleme, ihren Kopf zu heben. Die Stüchers gingen mit ihr zur Physiotherapie, trotzdem stellten sie keine Verbesserung fest. Auch mit der Lautsprache tat sich Mia schwer. Die Stüchers hatten einen Kinderarzt, der Mia gut kannte, sich sehr für die Familie einsetzte – als der Mediziner die Stelle wechselte, zogen die Stüchers sogar hinterher. Schließlich, nach einem Gentest, erhielt Mia kurz vor ihrem dritten Geburtstag die Diagnose Angelman-Syndrom. „Wir merken jetzt: Vom Kopf her bleibt sie auf diesem Stand stehen. Sie wächst aber“, sagt Niclas Stücher heute.

Familie Stücher: Niclas, Simeon (2), Lisa Mareile und Mia (4).
Familie Stücher: Niclas, Simeon (2), Lisa Mareile und Mia (4). © Niclas Stücher

Mia mag nicht gewickelt werden, Zähne putzen auch nicht, erzählt ihr Vater. „Wir kennen es nur so.“ Normalität, die viel herausfordernder ist als der Alltag anderer Eltern. „Man muss immer noch zehn Schritte weiterdenken“, so Stücher.

Für einen Abend leuchten überall in Siegen und Altenkirchen Gebäude blau

„Ich bin zufrieden platt“, sagt Niclas Stücher am Ende eines langen Tages. Er und seine Frau sind Mitglieder im Selbsthilfeverein „Angelman e. V.“, sie organisierten mit weiteren Unterstützern den ersten Angelman-Tag in der Region – als einen von wenigen deutschlandweit: Die DRK-Kinderklinik wurde illuminiert, Apollo-Theater, Autobahnkirche Wilnsdorf, Heimatmuseum Herdorf, Kirchen, weitere Gebäude in und um Daaden, wo die Stüchers inzwischen leben. Ziel: Aufmerksamkeit schaffen, für die Betroffenen, für die Familien, für medizinische Forschung und Unterstützungsmöglichkeiten.

Gunborg Metz leitet das Familienzentrum Unterm Regenbogen in Burbach, das wie alle 47 Evangelischen Kitas im Kirchenkreis Siegen (EKiKS) seit Jahren inklusiv arbeitet. 148 Kinder mit besonderem Förderbedarf werden dort betreut, der Trägerverband unterstützt etwa mit Fortbildungen, Fachberatung für Inklusion und Sprache. „Mia ist die Tochter meiner Nichte“, sagt Gunborg Metz. „Ich kannte das Angelman-Syndrom vorher nicht, wie fast alle anderen.“ Sie beschloss, die Stüchers beim Angelman-Day zu unterstützen.

Die „Macher“ des Angelman-Day in Siegen und dem Siegerland: Niclas Stücher, Jens Kamieth, Gunborg Metz und Gerhard Alfes
Die „Macher“ des Angelman-Day in Siegen und dem Siegerland: Niclas Stücher, Jens Kamieth, Gunborg Metz und Gerhard Alfes © Hendrik Schulz

Neben DRK-Kinderklinik und Kirchenkreis wandte Metz sich an Jens Kamieth, der Siegener CDU-Landtagsabgeordnete ist Familienpolitiker, „ich wusste, er hat ein offenes Ohr.“ Kamieth war sofort bereit, die Aktion zu unterstützen, ihm war klar, dass die Beleuchtung Geld kosten würde. „Ich sehe meine Rolle auch darin, Dinge zu ermöglichen und Leute zusammenzubringen“, sagt er. Er fragte bei Gerhard Alfes und dem Heimatverein Achenbach nach, die mit EU-Fördermitteln kürzlich eine geeignete Lichtanlage angeschafft hatten. Alfes hatte etwa schon das Heimathaus in Achenbach illuminiert, ist der Kinderklinik eng verbunden und war sofort Feuer und Flamme. Wie auch die Klinik selbst, die mit ihrem Sozialpädiatrischen Zentrum für Entwicklungsstörung (SPZ) einen starken medizinischen Schwerpunkt auf Patienten wie Mia legt.

DRK-Kinderklinik Siegen kümmert sich um kranke Kinder und ihre Familien

Das SPZ auf dem Wellersberg kümmert sich um Kinder wie Mia, die eine Entwicklungsstörung haben; egal welche, von 0 bis 18 Jahren. Das SPZ ist eines der ältesten in Deutschland, vor fast 50 Jahren gegründet, rund 12.000 ambulante Fälle pro Jahr betreuen Ärztlicher Leiter und Chefarzt Dr. Holger Petri und sein multidisziplinäres Team, darunter viele seltene und sehr seltene Erkrankungen.

Chefarzt Dr. Holger Petri: Auch Kinder, die kaum Sprechen lernen können, brauchen Kommunikation. Dafür gibt es gute Konzepte wie die GuK (Gebärden-unterstützte Kommunikation).
Chefarzt Dr. Holger Petri: Auch Kinder, die kaum Sprechen lernen können, brauchen Kommunikation. Dafür gibt es gute Konzepte wie die GuK (Gebärden-unterstützte Kommunikation). © DRK Kinderklinik Siegen

Am Anfang steht die Diagnostik. Irgendetwas stimmt nicht – das SPZ kann es klären. Gehirn, Gehör werden untersucht, beim Angelman-Syndrom auch die Humangenetik. Dann kommen Therapie, Förderung, Inklusion – die Experten sehen sich in einer „Lotsenfunktion“, „ich nenne das, was wir tun, gerne Koordinationsmedizin“, sagt Dr. Petri. Die Fachleute gehen sehr individuell auf die kleinen Patienten eingehen. Und auf die Eltern: „Von Anfang an beziehen wir die Familien intensiv ein“, sagt Dr. Petri, „damit sie verstehen was los ist.“ Viele würden sich die Schuldfrage stellen: Was hätten wir anders machen können? Viele Erkrankungen bringen spezielle, typische Verhaltensmuster mit – das ist oft sehr herausfordernd. Die Spezialisten begleiten die Familien dabei. „Wir öffnen Kindern zum Beispiel die Türen zur Sprache“, erklärt der Chefarzt; motivieren zum und unterstützen beim Lernen, bei der Selbstständigkeit, um die Potenziale jedes Kindes bestmöglich auszuschöpfen. Vermitteln Kontakte, medizinische Spezialisten, Selbsthilfegruppen, Unterstützung im Sozialsystem.

Individuell im Spezialisten-Team auf jedes Kind und seine Persönlichkeit eingehen

Denn so selten manche Erkrankungen sind und so typisch ihre Symptome: Die Patienten sind nicht alle gleich. Es gibt typische Gemeinsamkeiten, ja – aber wie alle andere Kinder haben auch sie Persönlichkeit. Fachleute für Disziplinen wie Physiotherapie, Logopädie, Heilpädagogik, Mototherapie, Psychologie lernen ein Kind früh kennen, gehen gemeinsam mit der Familie die nächsten Schritte. Es gibt viele gute Ideen und Konzepte, sagt Dr. Petri, auch für einzelne Erkrankungen – man muss diese aber kennen, genauso Spezialisten. Lokale Netzwerke und Unterstützungsmöglichkeiten helfen den meisten betroffenen Familien sehr.

Auch in Angelman-Day-Blau ein Hingucker: Die Autobahnkirche Wilnsdorf.
Auch in Angelman-Day-Blau ein Hingucker: Die Autobahnkirche Wilnsdorf. © Privat

Die Grundhaltung sei dabei immer gleich, betont der Chefarzt: Auf Augenhöhe mit Kind und Eltern: „Wer bist Du, was brauchst Du und wie können wir dabei helfen? Wir holen sie da ab, wo sie stehen und helfen auf ihrem eigenen Weg ins Leben.“

Mit Inklusion ist es in Deutschland oft nicht weit her – eher dabei als mittendrin

„Viele Eltern sehnen sich nach Normalität für ihre Kinder“, Dr. Holger Petri spricht aus Erfahrung: Sie suchen nach inklusiven Sportvereinen, Schwimmkursen, Selbsthilfegruppen. Echte Inklusion, so die Überzeugung des Arztes, von Vater Niclas Stücher und von Pädagogin Gunborg Metz, ist mittendrin statt nur dabei. Letzteres sei aber oft genug die Realität in Deutschland. Dabei müsse das keineswegs so sein; „man kann extrem viel tun“, sagt Holger Petri. Das kleine Netzwerk, das sich für den Angelman-Tag zusammengefunden hat, will hier weiterarbeiten, sich austauschen, vernetzen und daran arbeiten, Inklusion in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Für Kinder wie Mia und für alle anderen Kinder mit einer seltenen Erkrankung.

Auch das Siegener Apollo-Theater wird am Angelman-Day blau angestrahlt.
Auch das Siegener Apollo-Theater wird am Angelman-Day blau angestrahlt. © Privat

Für Niclas Stücher ist zum Beispiel gemeinsame Freizeit mit Mia nicht trivial. „Wie nehme ich meine Tochter beim Fahrradfahren mit, wie können wir als Familie Sport treiben, ohne sie ‘abzuschieben’, wie einkaufen“, erzählt er: In den Gängen der City-Galerie sei der breite Reha-Kinderwagen noch okay, aber in vielen Geschäften sehe das anders aus. Oder im Urlaub: „Mia benötigt ein ausbruchssicheres Bett“, berichtet ihr Vater, das Mädchen kann Gefahren nicht einschätzen, hat oft Probleme mit dem Schlafen. Die Familie hat lange keinen richtigen Urlaub mehr gemacht, weil kaum eine Ferienwohnung Platz für Mias Bett bietet. Vom Familienauto ganz zu schweigen.

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Inklusion sei in Deutschland ein Riesenproblem, so Stücher, „in der Theorie ist sie da, aber eben nur theoretisch.“ Barrierefreiheit bedeute meist, dass man irgendwo mit einem Rollstuhl hinkommen könne. Niclas Stücher steht in Kontakt mit dem Verein „Sportler ruft Sportler“ (SRS) mit Sitz in Altenkirchen. SRS sei sehr daran interessiert, auch inklusive Angebote zu entwickeln.