Siegen. Der Pflegenotstand wird seit Jahren immer schlimmer, sagen Siegener Pflegekräfte. Die Politik verspricht Besserung – und macht es noch schlimmer.

Die frisch gewählten Mitglieder der NRW-Pflegekammer wollen die Pflegekammer so schnell wie möglich wieder abschaffen. Für große Teile der Siegerländer Pflegekräfte ist die Kammer nicht nur nutzlos, sondern eine zusätzliche Zwangsbelastung für eine Branche, die seit Jahren unter steigender Arbeitsbelastung ächzt. Und die Situation, sagen in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisierten Kräfte, verschärfe sich weiter.

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„Am Ende sind alle betroffen“, sagt Pfleger Marius Janeczek, Verdi-Nachrücker für die Kammer: Wartezeiten für Patienten würden immer länger, die Liegedauer in den Kliniken immer kürzer. „Wir pflegen mit weniger Personal mehr Patienten in kürzerer Zeit“, sagt er – die psychische und physische Belastung sei enorm. „Immer mehr von uns brauchen eine Auszeit.“

Siegener Pflegekräfte: NRW-Pflegekammer legt zusätzliche Daumenschrauben an

Ende Oktober fand die Wahl zur NRW-Pflegekammer statt und die größte Fraktion sind die, die sie ablehnen: Verdi hat 16 Kammersitze (von 60), holte 26 Prozent der abgegebenen Stimmen. „Sehr bezeichnend“ findet das der Siegener Verdi-Gewerkschaftssekretär Jasin Nafati. Das Gremium wurde vom NRW-Landtag ins Leben gerufen mit dem Anspruch, der Pflege eine Stimme zu geben. Faktisch, entgegnet dem Marius Janeczek, würden der Pflege mit der verpflichtenden Mitgliedschaft für alle zusätzliche Daumenschrauben angelegt, die den Beruf unterm Strich nicht attraktiver machten.

Marius Janeczek, Angelika Buske und Axel Beckmann vertreten Verdi in der NRW-Pflegekammer.
Marius Janeczek, Angelika Buske und Axel Beckmann vertreten Verdi in der NRW-Pflegekammer. © Hendrik Schulz

Zum einen fehle die Legitimation: In der Praxis arbeiten Pflegehilfskräfte Hand in Hand mit den examinierten Fachkräften – waren aber nicht wahlberechtigt. „Sie wurden komplett ignoriert“, kritisiert Nafati. Vor der Wahl fand eine Befragung statt, ob die Pflegekräfte eine eigene Kammer wollen. Daran nahmen laut Gewerkschaft gerade einmal 10 Prozent (etwa 21.000) der insgesamt 200.000 Pflegefachkräfte in NRW teil. Viele Wahlberechtigte seien zudem überhaupt nicht informiert worden über die bevorstehende Wahl, konnten sich nicht registrieren lassen, „die Wahl ging völlig an ihnen vorbei“. Die Verdi-Fraktion fordert daher eine Vollbefragung aller Pflegekräfte.

Pflegekammer: Verdi Siegen fordert Vollbefragung – will die Pflege die Kammer?

Am 16. Dezember findet die konstituierende Sitzung der Kammer statt, „bis dahin werden wir viele Gespräche führen“, sagt Angelika Buske. Sie arbeitet als Pflegerin im Freudenberger Bethesda-Krankenhaus und ist Verdi-Kammervertreterin. Die Vollbefragung ist das zentrale Anliegen ihrer Fraktion, dafür wollen sie Überzeugungsarbeit bei den anderen Listen leisten, eine Mehrheit beschaffen. Logistisch wäre das möglich, „in anderen Bundesländern hat es ja auch geklappt“, sagt Gewerkschaftssekretär Nafati. „Wir Pflegende wollen gefragt werden“, stellt Marius Janeczek klar, „und zwar alle!“

OP-Pflegekräfte im Operationssaal des Siegener Marien-Krankenhauses: „Mit 67 arbeitet doch keiner mehr in der Pflege.“
OP-Pflegekräfte im Operationssaal des Siegener Marien-Krankenhauses: „Mit 67 arbeitet doch keiner mehr in der Pflege.“ © Hendrik Schulz

Für Verdi fehlt auch die Sinnhaftigkeit; mehr als das: Kernkompetenz der Pflegekammer soll die Fort- und Weiterbildung sein, sie hat aber keine Möglichkeit, das bei den Arbeitgebern durchzusetzen. Denn die Beschäftigten müssten freigestellt, Kosten übernommen werden. Die Arbeitgeber profitierten zwar, wenn Pflegekräfte sich fortbilden, was bislang von Haus zu Haus ganz unterschiedlich geregelt wird. Das soll landesweit vereinheitlicht werden – nur dass dann auch die Aberkennung der Berufsbezeichnung droht, wenn sie das nicht wie gefordert tun. „Die Pflegekräfte sollen das auf eigene Kosten in ihrer Freizeit leisten“, sagt Nafati. Über Stellen, Arbeitsverdichtung oder Vergütung kann die Pflegekammer nicht verhandeln – das ist ureigenste Aufgabe der Gewerkschaft.

Jede Pflegekraft muss Mitgliedsbeitrag zahlen – bis zum Lebensende, auch Rentner

„Die Pflegekammer ist ein zahnloser Tiger“, betont Verdi-Fachmann Jasin Nafati, „sie hat keine Handhabe, die Arbeitssituation zu verbessern – im Gegenteil.“ Es sollte eine Pflege-Lobby geschaffen werden, eine Interessensvertretung, die aber keinerlei Möglichkeit habe, auf die Politik einzuwirken. Die, sagt auch Marius Janeczek, zieht sich aus der Verantwortung: Die Kammer solle etwas organisieren, was sie gar nicht dürfe und könne es dann nicht durchsetzen – wenig wahrscheinlich, dass die machtlose Pflegekammer erfolgreicher sein werde als schon vorhandene Verbände. Die Pflegekammer sei ein Feigenblatt der Landespolitik, die mit der Errichtung darauf verweisen könne, etwas für die Pflege getan zu haben. Faktisch, kritisiert Verdi, verschlechtere sich die Situation aber: Pflegekräfte stünden schon unter Beobachtung des Staates und der Arbeitgeber, jetzt auch noch der Kammer.

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Und dann sind da noch die Kosten: Zunächst ist die – für Pflegefachkräfte verpflichtende – Mitgliedschaft in der Kammer beitragsfrei, mit 50 Millionen Euro Steuergeldern werde das subventioniert, sagt Gewerkschaftsvertreter Nafati – bis 2027. Dann sind Landtagswahlen. „Sie erkaufen sich Zeit“, so sieht Axel Beckmann das, ebenfalls Nachrücker auf der Verdi-Liste aus dem Siegerland – und dann kommen die Beitragsbescheide. Auch Pflegekräfte im Ruhestand sollen zahlen, bis an ihr Lebensende. „Schlimmer als eine Ehe“, sagt Beckmann mit Galgenhumor. Wer sich nicht registriert hat, nicht wissend oder nicht wollend, dem drohten Bußgelder: Bis zu 2500 Euro, wenn nicht gezahlt wird.

In Siegen steigt der Druck: Immer mehr Ausfälle, immer weniger Nachwuchs

Seit Jahren machen Pflegekräfte auf steigende Belastungen, Personalausfälle, Nachwuchsmangel aufmerksam. Zwar wurde hier und da reagiert, Druck aus dem Kessel habe das aber kaum genommen, sagt Marius Janeczek: Die Zahl der Überstunden steige aktuell von Monat zu Monat, statt dass sie abgebaut werden. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen würden sich arbeitsunfähig melden, die Ausfallquoten lägen bei 30 Prozent. „Die Kostenträger würden den Mehrbedarf sogar finanzieren“, sagt er – aber der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Besserung? Nicht in Sicht: Der Demografische Wandel droht. „In fünf Jahren sind 20 Prozent raus aus dem Beruf“, sagt er, das wisse man schon heute. „Mit 67 arbeitet doch keiner mehr in der Pflege.“

Und bei den wenigen Nachwuchskräften, sagt Axel Beckmann, spiele die Work-Life-Balance eine immer wichtigere Rolle; eine 35-Stunden-Woche etwa könne ein echter Standortvorteil für ein Krankenhaus sein, um junge Pflegekräfte anzuziehen. Für die Arbeitgeber sei das wahrscheinlich auch noch günstiger, rechnen die Verdi-Leute: Wenn eine Fachkraft ausfällt, müsse der aus der Freizeit geholte Ersatz mit 140 Prozent bezahlt werden. Von diesem finanziellen Mehraufwand, sagen die Gewerkschaftsmitglieder, könnte man auch gleich mehr Leute bezahlen, die dann ausgeruhter seien und sich weniger krankmelden müssten.

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Und nicht zuletzt sei auch die unausgegorene Pflegekammer kontraproduktiv, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, findet Gewerkschaftssekretär Nafati: „Viele überlegen deswegen derzeit, ob sie im Beruf bleiben. Oder ihn ergreifen.“