Siegen. Klatschen von Balkonen, danach passierte wenig. Pflegekräfte am Rand der Erschöpfung. Diskussion in Siegen:„Politik stützt System der Ausbeutung“
Merve Yetiz liebt ihren Beruf, trotz allem. Sie ist stolz darauf, wirbt für die Pflege. Obwohl die Krankenpflegeschülerin nach bis zu zehn Tagen Schaufelschichten, früh, spät, früh, spät, total fertig ist. Obwohl sie wenig Privatleben hat und immer weniger Zeit für sich, Freunde, Hobbys. Obwohl sie oft mit dem Gefühl heimgeht: Habe ich alles richtig gemacht? Kommen die anderen morgen ohne mich klar? „Es kann so nicht weitergehen; dass die sich darauf verlassen, dass wir schon irgendwie einspringen werden“, sagt Yetiz bei der Podiumsdiskussion „Klatschen genügt nicht“ der Initiative „Wa(h)re Gesundheit“ in der Martinikirche.
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Moderatorin Dr. Astrid Greve, Vorsitzende der Gustav-Heinemann-Friedensgesellschaft Siegen als Mitveranstalterin, fasst es in drastischen Worten zusammen: „Das ist Missbrauch von Solidarität. Die Politik stützt ein System der Ausbeutung. Gerade bei Auszubildenden ist das kriminell.“ Pflege liegt am Boden, seit Jahren schon; Corona hat den Notstand ans Licht gezerrt, für kurze Zeit wenigstens, ihn zusätzlich verschärft. Passiert ist wenig, seit man vergangenes Jahr von Balkonen für Pflegekräfte applaudierte, sagt Greve. „Die Personaldecke ist so dünn, sie ist vielerorts längst zerrissen.“ Das Problem in der Pandemie: nicht Beatmungsgeräte und nicht Betten. Zu wenig Personal.
Pflegeschülerin in Siegen: Mit Examinierter Pflegekraft und Praktikantin Station wuppen
Auch und gerade Azubis bekommen es ab. Merve Yetiz steht kurz vor dem Examen, arbeitet wieder auf Station, berichtet von der Angst, die sofort wieder da war. Weil eine examinierte Kraft, eine Pflegeschülerin und eine Schulpraktikantin oft die ganze Station wuppen müssen, irgendwie. Erzählt von Unsicherheit und Sorge, in all dem Chaos Arbeiten zu erledigen, die sie vielleicht gar nicht erledigen darf. Wie sie sich zuhause fragt, ob sie alles richtig gemacht hat, weil für Ausbildung eigentlich kaum Zeit sei. Die erfahrenen Kräfte haben ja kaum Zeit zum Anlernen. „Das ist sehr belastend, dabei wissen wir eigentlich gar nicht, wie es den Patienten wirklich geht.“ Und dennoch: Diesen Beruf mache sie „unheimlich gerne“.
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„Wir sollen keine Lückenfüller werden. Das Problem ist, dass wir das bereits sind“, sagt Johannes Pfennig aus dem Publikum, ebenfalls Pflegeschüler. Während der praktischen Ausbildung funktioniere die Station drei Viertel der Zeit nicht ohne Azubis. Viele Examinierte mühten sich trotzdem, „uns eine gute Ausbildung zukommen zu lassen“, verstärken dabei die Abwärtsspirale aus Personalnot und Arbeitsverdichtung, in der sie selbst stecken. Und die Pflegeschüler fürchteten dennoch am Ende vor Situationen zu stehen, in denen sie sich nicht sicher sind. In denen die Erfahrung fehlt, die Ausbildung Lücken hatte. Was die Endlosspirale weiter verstärke: Die erfahrenen Kräfte müssen die frisch Examinierten dennoch weiter unterstützen.
Arbeit für Pflegekräfte in Siegen zu stark verdichtet; während Arbeitszeit kaum schaffbar
Sabine Reuter, Mitgründerin von „Wa(h)re Gesundheit“, ist immer noch fassungslos angesichts des Pflegenotstands, der sich seit Jahren weiter verschlimmert. Trotz aller Warnungen, Mahnungen, Appelle. Ein kleiner Corona-Bonus, den gar nicht alle Pflegekräfte erhielten, weil das Geld nicht reichte, sei nicht genug. „Es belastet mich, dass wir Pflegeschüler missbrauchen müssen für Dinge, die sie eigentlich nicht machen sollen“, sagt Reuter.
Arbeit sei so verdichtet, dass die Arbeitszeit nicht mehr ausreicht, sagt Marius Janeczek, Krankenpfleger und Mitarbeitervertreter. Wenn ein Viertel der Pflegekräfte dauerkrank arbeitsunfähig sei, müssten am Ende Zimmer geschlossen werden. Irgendwann sind die, die noch da sind, auch fertig. „Was nützen neue Anbauten und Zimmer, wenn kein Personal da ist?“
Pflegekräfte tun sich schwer mit Streik – Verantwortungsgefühl für Patienten
Es soll um Wege aus dem Dilemma gehen an diesem Abend. Eine Pflegefachkraft, die ihre Ausbildung an der Wannseeschule Berlin absolvierte, berichtet von Selbstorganisation der Auszubildenden. Auch dort seien sie kaum eingearbeitet worden – also gründeten sie eine Azubivertretung, in Kursen leiteten die höheren Jahrgänge die jüngeren an. Gingen auf die Straße. „Wir dürfen streiken“, betont sie. „Es stimmt nicht, dass wir damit Patienten gefährden.“ Als letztes Mittel müsse die Arbeitnehmerschaft für ihre Rechte einstehen, die Sache selbst in die Hand nehmen, sich organisieren. Das könne funktionieren, wie der jüngst geschlossene Tarifvertrag für Gesundheitsfachberufe an der Berliner Charité zeige.
Der Siegener Pflege-Appell
Forderungen der Initiative, die an Geschäfts- und Einrichtungsleitungen geschickt werden:
Aufhebung der Fallpauschalen;
Abschaffung Privatisierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen;
verantwortlicher Mindestpflegepersonalschlüssel für alle Stationen tags und nachts, bei Nichteinhaltung Bettenschließung;
verbindliche und verlässliche Dienstpläne;
Abbau von Bürokratie und Dokumentationspflicht;
angemessene Bezahlung.
Mit Streiks tun sich Pflegende traditionell schwer, sie fühlen sich an ihre Verantwortung gegenüber den Patienten gebunden, sagt Astrid Greve. Sie sei es leid, dass sich die Pflegekräfte auch untereinander so uneins seien, sagt Merve Yetiz, „wir müssen alle an einem Strang ziehen, um ernst genommen zu werden.“
Pflegekammer wird in Siegen zwiespältig gesehen – zwischen Hoffnung und Kritik
Ein Weg kann die Pflegekammer sein, die aber viele kritisch sehen. „Ich war auf einmal Mitglied“, erzählt Adhemar Molzberger, der im Kreis Altenkirchen als Krankenpfleger arbeitet. Seit vier Jahren, gebracht habe es bisher nichts. Für Dinge wie Gehalt oder Arbeitszeit sei die Gewerkschaft zuständig. Auch für Jasmina Dinter, Krankenschwester und Aktivistin aus Selm, spricht nicht viel für die Pflegekammer. „Sie ist keine Stimme der Pflege, weil sie keine Stimme im gemeinsamen Bundesausschuss hat“, sagt sie. Die Kammer sei zuständig für Qualitätssicherung – „wir haben nicht genug Personal: Welche Qualität wollt ihr sichern?“
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Merve Yetiz dagegen hofft auf Selbstorganisation, Vernetzung durch die Kammer. Schon durch die Struktur an sich sei Pflege politisiert, was ihr eine Stimme verschaffe. Es brauche Zusammenarbeit von Kammer, Gewerkschaft, Verbänden für eine effektive Selbstverwaltung – bis zu einem gewissen Grad, pflichtet Johannes Pfennig bei. „Wie soll die Kammer in drei, vier Jahren etwas schaffen, was jahrzehntelang kaputtgewirtschaftet wurde?“
Siegener Pflege-Initiative fordert seit Jahren: Patienten keine Wirtschaftsobjekte
Die Arbeitgeber müssten mit ins Boot, betont Sabine Reuter. Um gemeinsam politisch etwas zu erreichen, den „internen Dokumentationswahnsinn“ abzubauen, Digitalisierung voranzutreiben, damit Fieber- und Schmerzkurven nicht mehr aufwendig von Hand gezeichnet werden müssen.
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„Anerkennung unserer Arbeitgeber für das, was wir jeden Tag leisten“, ist Marius Janeczek wichtig. „Wenn die Stationsleitungen gut strukturiert und organisiert sind, kann es funktionieren“, sagt Jasmina Dinter. Gesundheit, sind sich alle einig, darf keinen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Regeln unterliegen. Der Patient muss im Mittelpunkt stehen, aber nicht als Wirtschaftsobjekt.
Das fordern sie seit Jahren.