Geschichte muss nicht unbedingt vorbei sein. Am Beispiel des Impfens und der Badeanstalten beweist das der Historiker Bernd D. Plaum.

Bernd D. Plaum wählt in der neuen Ausgabe der Siegener Beiträge zwei Themen aus, die eine Brücke in die Gegenwart schlagen. Von den Pocken zu Corona, von der Badekultur zur Selbstoptimierung.

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Pocken und „Affenliebe“

Plaum berichtet in seinem Aufsatz über die Impfkampagne gegen die Pocken um 1800. Damals gab es gerade einmal drei Ärzte in Siegen und je einen in Ferndorf und Hilchenbach – neben den zahlreicheren, aber nur handwerklich ausgebildeten Chirurgen. „Von den jetzigen Wundärzten zu Siegen wird kein Rühmen gemacht, und es scheint als wenn dieselben eben nicht die fähigsten und die thätigsten wären“, zitiert der Historiker aus einem Bericht von 1809. Immer wieder hatten im 18. Jahrhundert Pocken-Epidemien Todesopfer gefordert. 1808 waren schließlich 79 Prozent der Kinder in Siegen geimpft.

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Landphysikus Karl Albert Schenck berichtet über eine Impfkampagne 1801 in Niederdielfen. Dort sei ein einziges Kind „aus Vorurtheil und aus dummer Affenliebe“ der Eltern ungeimpft geblieben: „Das arme Geschöpf litte 9 bis 10 Tage hindurch die fürchterlichsten Schmerzen, und gab unter der Last derselben endlich sogar den Geist auf.“ In Oberdielfen hätten alle Eltern ihre Kinder impfen lassen, das Dorf blieb von der Epidemie verschont.

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2-G-Regel im 19. Jahrhundert: Ungeimpfte können nicht Lehrling werden

„Überall erkennen Eltern noch nicht die heilige Pflicht, ihren Kindern nicht allein das Leben, sondern auch eine dauerhafte Gesundheit, und dem Vaterlande seine künftigen Bürger durch das einfache Mittel zu erhalten, das die Natur dargeboten hat und dessen Vernachlässigung sich peinigend auf ihre Gewissen wälzen muß“, heißt es in einer Verordnung der großherzoglich bergischen Regierung. Eine Impfpflicht gab es nicht. Wohl aber die Bestimmung, dass als Lehrling im Handwerk, bei Kaufleuten, Gutsbesitzer und Bauern nur angestellt werden durfte, wer eine Blatternerkrankung überstanden hatte oder ein Impfattest vorlegte. Ungeimpfte Kranke wurden nicht ins Hospital aufgenommen, ungeimpfte Arme bekamen keine Unterstützung.

Über die Impfungen wurde bei den Bürgermeistern – in der französischen Besatzung: den „Maires“ – ein Verzeichnis aller in den letzten zehn Jahren geborenen Kinder – angelegt. „Eine öffentliche Diskussion über das Für und Wider der Impfung fand nicht statt“, berichtet Bernd D.Plaum, „gleichwohl gab es Skeptiker und Gegner der Impfung.“ 1874 wurde in Preußen die Impfpflicht gegen die Pocken gesetzlich eingeführt, seit 1980 gilt die Krankheit als ausgerottet.

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Gasthaus mit „Bade-Anstalt“

Bernd D. Plaum berichtet außerdem über das Gasthaus Seyffart in Fickenhütten im Süden Weidenaus – am Anfang des 19. Jahrhunderts eines der besten Häuser im Landkreis, das einzige außerhalb der Stadt Siegen. Der Gasthof hatte 14 beheizbare Zimmer, „zumeist tapeziert“, einen Stall für zwölf Pferde, eine Kutschremise und einen Saal. Das andere Gasthaus in Fickenhütten gehört Tilmann Jakob Jüngst. Bei ihm finden Bälle statt, treten Bauchredner und Musikkapellen auf, werden Lehrerfeste gefeiert und – in den Revolutionsjahren 1848/49 – politische Versammlungen abgehalten. 1839 erweiterte das Ehepaar Jüngst sein Gasthaus um eine „Bade-Anstalt“: einmal in der Woche auch für die Damen, „an welchem das Badehaus so wie der Garten für die Herren geschlossen ist“. Dampf- und Reinigungsbäder sowie Dampf-, Salz-, Schwefel- und Schlackenbäder waren im Angebot. „Auch ist dafür gesorgt, daß, wer es wünscht, im Bade geschröpft werden kann“, berichtet Kreisphysikus Dr. Vollmer in einem Empfehlungsschreiben. Um den 1. Mai, später erst um den 1. Juni herum beginnt die jährliche Saison.

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Sorge um eigene Gesundheit wird wichtiger

Im Laufe der Jahre kommen weitere Badeanstalten dazu, 1850 auf der Siegener Hammerhütte auch eine „Schwimm- und Bade-Anstalt“. Die von der Witwe Jüngst in Fickenhütten, die 1852 starb, wird nach 1858 nicht mehr erwähnt. Ihre Söhne gaben die Gastronomie auf. „Mit ihrer Badeanstalt in Fickenhütten kreierten Tilmann und Luisa Jüngst für das Siegerland eine neue Badekultur“, stellt Bernd D. Plaum fest, „Sauberkeit und Reinlichkeit gewannen ebenso wie die Sorge um die eigene Gesundheit (…) an Bedeutung. Wer den damit verbundenen Vorgaben folgte, beschritt den noch jungen Weg der Selbstoptimierung.“

Siegener Beiträge. Jahrbuch für regionale Geschichte. Band 26. Im Buchhandel und per Mail an info@geschichtswerkstatt-siegen.de.

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