Siegerland. Für ältere Menschen kann die Kontaktarmut in der Pandemie gefährlich werden. Einige bauen körperlich und mental ab – oft kriegt es niemand mit.

Die Isolation während der Corona-Krise kann für ältere Menschen zur gesundheitlichen Bedrohung werden. Einsamkeit, fehlender Austausch und das Wegbrechen eines strukturierten Tagesablaufs erhöhen vor allem für alleinlebende Seniorinnen und Senioren das Risiko eines körperlichen und mentalen Abbaus. Gerade diese Gruppe ist aber aufgrund der fehlenden Kontakte schlecht zu erreichen.

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Corona-Krise in Siegen: Gerade betagte Singles sind oft über Tage und Wochen allein

„Da ist Vieles noch unter der Grasnarbe und kommt erst noch auf uns zu“, sagt Udo Knopp, bei der Senioren- und Pflegeberatung der Stadt Siegen für die Einzelfallbetreuung zuständig. Das volle Ausmaß werde sich erst nach der Corona-Krise zeigen. Unter der Isolation litten zwar Menschen aller Generationen, aber „alte Menschen sind stärker betroffen“, unterstreicht der Sozialarbeiter. Vor allem aber besteht für diese Gruppe eine viel größere Gefahr, zu verkümmern, wenn sie einsam und nur auf sich gestellt sind – mit dauerhaften Folgen für die Gesundheit.

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Viele hätten schon vorher nur ein überschaubares Maß an Kontakten gehabt, „und das bricht dann noch weg“. Bei Seniorenpaaren, die zu zweit seien, aktiv und im besten Fall finanziell abgesichert, seien die Risiken deutlich geringer. Aber Singles seien im schlimmsten Fall „über Tage oder Wochen alleine“. Da zudem – anders als bei Berufstätigen – die bis zu einem gewissen Maß positive Alltagshektik des Joblebens nicht mehr bestehe, „wird es sehr sehr ruhig“. Und viele mit Gesellschaft verbundene Aktivitäten – Gruppen im Haus Herbstzeitlos, Kurse an der Volkshochschule, Begegnungen in der Nachbarschaft – fallen im Lockdown ebenfalls weg.

Diakonie in Südwestfalen: Die ambulante Pflege ist oft der einzige Kontakt der Senioren

„Im Lockdown nimmt die Vereinsamung alter Menschen zu. Und die psychische Lage, die Stimmung – das verschlimmert sich“, sagt Harry Feige, Geschäftsführer Ambulante Diakonische Dienste der Diakonie in Südwestfalen. Die rund 20 angeschlossenen Diakoniestationen und drei Tagespflegen betreuen rund 3000 Menschen. „Bei vielen sind die einzigen, die vorbeikommen, wir.“ Diese Senioren hätten dann zumindest noch jemanden, mit dem sie sich austauschen können. Bei denjenigen, bei denen nicht einmal ein Pflegedienst kommt, sei es noch bedenklicher. „Wir wissen, dass das so ist.“

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Wie verheerend sich die Isolation oft auswirkt, habe sich im ersten Lockdown gezeigt. Anders als derzeit seien damals die Tagespflegen nicht geöffnet gewesen, „das hat bei vielen Leuten zu schlimmen Situationen geführt“. Auch an einem Angebot wie dem derzeit nicht stattfindenden Café 60+ der Diakoniestation Geisweid werde deutlich, was die Lage für viele bedeute. 15 bis 25 Seniorinnen und Senioren hätten sich dort einmal in der Woche getroffen, für viele ein fester Termin. „Diesen Menschen geht es schlecht, die sind jetzt allein.“

Eine Hauptschwierigkeit sei, dass auf das Leid dieser Menschen und auf möglicherweise auftretende Abbauerscheinungen kaum jemand aufmerksam werde, weil sie eben keine Kontakte haben – das, was das Problem verursacht ist gleichzeitig der Grund, wieso es oft nicht oder erst zu spät bemerkt wird. „Wir müssen da gesellschaftspolitisch etwas tun“, sagt Harry Feige.

Caritasverband Siegen-Wittgenstein: Erschütternde Erfahrungen nach erstem Lockdown

„Wir haben es stark bei der Tagespflege gemerkt. Wir hatten teilweise das Gefühl, wir erkennen unsere Gäste nicht wieder“, bestätigt Matthias Vitt, Vorstand des Caritasverbands Siegen-Wittgenstein, über die achtwöchige Schließung der Einrichtungen im ersten Lockdown. Anders als bei jüngeren Leuten seien bei älteren Abbauerscheinungen oft nicht reversibel: „Das kriegen Sie gestoppt – aber Sie kriegen es kaum wieder aufgebaut.“ Selbst Menschen, die noch mit einem Partner zusammenleben oder beispielsweise ihre Kinder in verfügbarer Nähe hätten, seien vor solchen Negativentwicklungen nicht per se sicher, wenn die gewohnte Tagesstruktur und der Austausch in der Gruppe plötzlich entfallen.

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Wenn Pflegekräfte ins Haus kommen, könnten diese körperliche und geistige negative Entwicklungen, auch depressive Tendenzen und Antriebslosigkeit bemerken, über eine strukturierte Informationserfassung festhalten und weitergeben. Die Pflegedienstleitung suche dann das Gespräch mit Betroffenen oder Angehörigen, um frühzeitig Schritte einzuleiten. Seniorinnen und Senioren, um die sich von offizieller Seite niemand kümmert – weil zuvor vielleicht auch gar kein Bedarf bestand – hätten diese Absicherung nicht. „Wir haben alte Menschen, die vereinsamen. Und das ist ein Problem“, sagt Matthias Vitt. „Das wäre für mich ein Appell an die Nachbarschaft, das im Blick zu behalten.“

Siegener Altersmediziner Dr. Christian Tanislav: Einsamkeit kann krank machen

„Menschen sind soziale Wesen und müssen miteinander in Kontakt sein, um gesund zu leben“, sagt Professor Dr. Christian Tanislav, Chefarzt der Geriatrie im Diakonie Klinikum Jung-Stilling in Siegen. „Isolierung ist demnach schlecht für den menschlichen Körper – nicht nur für ältere, sondern auch für jüngere Menschen.“ Bei älteren käme jedoch erschwerend hinzu, „dass sie Einsamkeit wenig bis kaum kompensieren können“, betont der Altersmediziner. Während junge Leute als Alternative für soziale Nähe Online-Medien nutzten, fehle dies bei vielen Seniorinnen und Senioren. Die Vereinsamung wirke sich demnach stärker auf die Gesundheit aus, es könne vermehrt zu Gefühlen von Traurigkeit kommen und „sie neigen mehr zu einer depressiven Stimmungslage“, wie Christian Tanislav erläutert.

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Es sei wissenschaftlich belegt, dass Depressionen vorbestehende organische Leiden verschlechtern – zum Beispiel einen Bluthochdruck –, „gar das Immunsystem schwächen“. Deshalb treffe soziale Isolation in der Corona-Krise „ältere Menschen, die meist zudem noch vorerkrankt sind, besonders schwer“.

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