Dreis-Tiefenbach. Tamara Scherotzki betreibt das Atelier Wilke in Netphen. Damit hat sie sich ihren größten Traum erfüllt. Ihre Geschichte hat viel von Hollywood.

„Ich liebe meine Geschichte. Sie war hart und schwer und zu 80 Prozent Zufall“, sagt Tamara Scherotzki. Im September hat die Maßschneiderin das „Atelier Wilke“ in Dreis-Tiefenbach eröffnet. Ihr Motto: „Fadenliebe“ – selbst die Fadenreste wirft sie nicht weg, sondern sammelt sie in Gläsern. Ihre Geschichte hat alles, was in Hollywood-Filmen gefragt ist: Leidenschaft, Mut, Zufall und etwas Schicksalhaftes.

Netphen: Schneiderin Tamara Scherotzki spricht über „schlimmste Zeit“ ihres Lebens

„Das Nähen begleitet mich seit meiner Kindheit. Meine Mutter hat schon viel genäht“, sagt Tamara Scherotzki. Sie habe schon das Geräusch der Nähmaschine geliebt. „Ich bin da völlig drin aufgegangen.“ Als sie sich schließlich für einen Beruf entscheiden muss, weiß sie, sie will „Näherin“ werden. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ein Beruf ist“, sagt sie. Das war Anfang der 90er Jahre – „googeln“, ob und wo es den Schneider-Beruf gibt, ging nicht.

+++ Lesen Sie auch: Kreuztal: „Charlotte hat Durst“ – Stillkleidung ohne Chichi +++

Zudem schlug der Netphenerin viel Gegenwind entgegen: „Damit verdienst du doch kein Geld“ oder „Das hat keine Zukunft“ waren die Aussagen der Menschen in ihrem Umfeld. Es gebe auch gar keine Schneider-Ausbildung in der Nähe von Netphen. Jahrzehnte später erfuhr sie, dass es sie sehr wohl gab, „am Berufskolleg Technik in Siegen“. „Ich wurde nicht so supportet“, bilanziert Tamara Scherotzki.

Das Atelier Wilke liegt direkt an der Siegstraße in Netphen-Dreis-Tiefenbach. 
Das Atelier Wilke liegt direkt an der Siegstraße in Netphen-Dreis-Tiefenbach.  © WP | Ina Carolin Lisiewicz

Für sie zerschlug sich damit erst einmal der Traum, Schneiderin zu werden. „Ich war dann planlos“, so Tamara Scherotzki. Sie machte eine Berufsgrundschuljahr an der Wirtschaftsschule, beschäftigte sich mit BWL und VWL. „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens“, so die heute 45-Jährige. Sie wusste, dass ein Bürojob nicht das war, was sie wollte.

+++ Lesen Sie auch: Start-up Scientibus: Nachhaltige, faire Mode aus Siegen +++

Nach dem Berufsgrundschuljahr machte sie eine Ausbildung zur Sozialpflegerin – im Anerkennungsjahr wurde sie schwanger. Danach standen erst einmal ihre vier Kinder und deren Erziehung im Fokus. Sie habe daneben stundenweise in der Gastronomie und der Betreuung gearbeitet, so Tamara Scherotzki. „Da ging es primär ums Geldverdienen.“

Netphen: „Ich habe meinen Kindern immer gesagt: Du kannst alles werden“

„Ich habe meinen Kindern immer gesagt: Du kannst alles werden“, betont die Netphenerin. Irgendwann wurden ihre Kinder älter, selbstständiger. Sie habe überlegt, was sie mit ihrer „zweiten Lebenshälfte“ anfangen könne, erzählt Tamara Scherotzki und dabei an eine Ausbildung zur Maßschneiderin gedacht. „In meinem Alter noch eine Lehre machen? Sich noch mal auf die Schulbank setzen?“, diese Fragen bewegten sie. Sie hielt sich zurück.

+++ Lesen Sie auch: Siegener Modelabel „zero27one“ mit viel Heimatliebe +++

Als ihr ältester Sohn schließlich Abitur machte, der Bürgermeister zum Zeugnis gratulierte, sagte sie zu ihren Kindern: „Jetzt kann er Bundeskanzler werden.“ Ihre Tochter stimmte ihr zu – alle Möglichkeiten ständen ihm offen. „Das war die Sekunde, wo ich dachte: Ich mach das!“, sagt Tamara Scherotzki über ihren Entschluss zur Maßschneider-Ausbildung. Natürlich sei sie in diesem Moment auch gerührt von dem Abitur ihres Sohnes gewesen („Mein ganzer Stolz sind meine Kinder“), aber eben auch überzeugt von ihrem Vorhaben.

+++ Lesen Sie auch: Brautkleider aus Drolshagen: „Lorelei“ trotzt Corona-Krise +++

„Ich habe mich an dem Tag online für die Maßschneiderei-Ausbildung für Damenoberbekleidung angemeldet und meine Kinder eingeweiht. Meinen Mann noch nicht“, sagt sie. „Mein Plan war: Ich mach’ das ein Jahr heimlich“, erzählt sie lachend.

Maßschneiderin Tamara Scherotzki betreibt das Atelier Wilke in Dreis Tiefenbach. Dort bietet sie Anfertigungen, Änderungen und Reparaturen von Bekleidung, Taschen und Wohnaccessoires sowie Makramee-Teile an. 
Maßschneiderin Tamara Scherotzki betreibt das Atelier Wilke in Dreis Tiefenbach. Dort bietet sie Anfertigungen, Änderungen und Reparaturen von Bekleidung, Taschen und Wohnaccessoires sowie Makramee-Teile an.  © WP | Ina Carolin Lisiewicz

Als schließlich immer mehr Schulbücher zu Hause eintrudelten, fragte ihr Mann doch einmal nach, was sie denn da mache. Er unterstützte sie. „Mein Mann hat mir immer den Rücken frei gehalten“, sagt Tamara Scherotzki. „Meine Kinder haben mich am meisten supportet.“ Sie lernten mit ihr für Klausuren.

Atelier Wilke in Netphen: Schneiderin Tamara Scherotzki tut das, was sie „wirklich liebt“

Drei Jahre machte Tamara Scherotzki eine Vollzeitausbildung zur Maßschneiderin in Betzdorf, fing sie mit 41 Jahren an. Ihre Lehre absolvierte sie damit auch in Corona- und damit Homeschooling-Zeiten. „Da kam mir alles Praktische zugute“, so Tamara Scherotzki.

Die Öffnungszeiten

Das Atelier Wilke ist von dienstags bis freitags von 9 bis 12 sowie von 14 bis 18 Uhr, samstags von 9 bis 14 Uhr geöffnet.

Mehr Infos gibt es bei Tamara Scherotzki unter 0152/ 587 240 50. Sie ist Mitglied im Bundesverband der Maßschneider.

Die Erfahrungen aus all den Jahren als Hobby-Schneiderin konnte sie nutzen. Als im April 2020 pandemiebedingt Menschen Stoffmasken brauchten, machte sie sich mit einem Kleingewerbe selbstständig.

+++ Lesen Sie auch: Siegen: Haus der Innovation wird erste Adresse für Gründer +++

Kurz nach ihrem Ausbildungsende eröffnete sie dann das Atelier „Wilke“ in Dreis-Tiefenbach und griff dafür auf ihren Mädchennamen zurück. Der Laden hatte etwas Schicksalhaftes. Wenn ihr als Jugendliche jemand gesagt hätte, sie würde dort, in der Siegstraße 100, wo sie früher Schulhefte kaufte , einmal ihr Atelier eröffnen – dann hätte sie das nicht geglaubt. Nun habe sie dort das, was sie von Herzen gerne mache, was sie „wirklich liebe“.

Netphen: „Ich möchte auch die junge Generation in die Schneiderei bringen“

Als gelernte Maßschneiderin bietet sie dort Anfertigungen, Änderungen und Reparaturen von Bekleidung, Taschen und Wohnaccessoires an. Mittlerweile ist die Änderungsschneiderei ihre Haupteinnahmequelle. „Der Bedarf nach Änderungen ist einfach viel, viel höher.“ Es ist mehr Zufall, dass sie nun mehr Änderungs- als Maßschneidereiarbeiten durchführt. Auch das mache sie „glücklich“.

Auch verschiedene Makramee-Teile, wie Vasendeko, bietet Tamara Scherotzki in ihrem Laden an.
Auch verschiedene Makramee-Teile, wie Vasendeko, bietet Tamara Scherotzki in ihrem Laden an. © WP | Ina Carolin Lisiewicz

Sie mag den nachhaltigen und langlebigen Gedanken daran. „Ich bin die bessere Änderungsschneiderin“, sagt sie als Maßschneiderin, ohne arrogant wirken zu wollen. Sie bietet alles an, was sich die Kunden an Schneiderarbeiten wünschen, soweit es denn möglich ist. Auch selbstgeknüpfte Makramee-Teile, wie Anhänger, bietet sie dort an.

+++ Lesen Sie auch: Framehouse Siegen: Hier gibt’s das Hochzeit-Komplettpaket +++

Ihr Wunsch: „Ich möchte auch die junge Generation in die Schneiderei bringen.“ Gleichzeitig ist sie aber auch die gute Seele für die ältere Generation. So arbeitet sie etwa Kleidungsstücke von Verstorbenen auf Wunsch um, macht aus der Jeansjacke zum Beispiel eine Einkaufstasche. „So hat man ein Stück von dem oder der Verstorbenen bei sich“, sagt die Vollblutschneiderin. Ein Stück, aber doch neu gemacht, sodass nicht zu viele Erinnerungen aufgewirbelt werden. „Irgendwann will ich mein Handwerk auch in Nähkursen weitergeben.“

+++ Lesen Sie auch: Mosja Clothing aus Burbach: Gute Klamotten, guter Zweck +++

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++

+++Täglich wissen, was in Siegen und dem Siegerland passiert: Hier kostenlos für den Newsletter anmelden!+++