Siegen. Weil er unter Drogen- und Tabletteneinfluss stand, wird ein 31-Jähriger in Siegen nach dem Angriff auf einen Rentner in Obersdorf freigesprochen.
„Ich hatte Todesangst“, sagt der 71-jährige Rentner aus Wilnsdorf, als er über den 11. Mai 2021 berichtet. Da entsorgte er im Ortsteil Obersdorf am Nachmittag Leergut, als ihn ein Fremder aufforderte, er müsse ihn sofort nach Wilnsdorf fahren, er habe einen dringenden Termin. Der Zeuge weigerte sich, wurde am Pulloverkragen gepackt und dann sogar mit einem „spitzen Gegenstand“ bedroht. Nun wollte der Angreifer den Autoschlüssel haben. Es kam zu einem Gerangel, der Pullover zerriss, der Mann bekam eine Stichwunde in den Arm. Am Dienstag sitzt der mutmaßliche Täter vor dem Schöffengericht. Am Ende wird er freigesprochen. Und Amtsrichter Matthias Witte legt besonderen Wert auf die Begründung der nicht ganz alltäglichen Entscheidung.
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Bereits im November war das erste Mal verhandelt worden. Da hatte das Gericht eine Dolmetscherin bestellt. Der Angeklagte verstand sie aber nicht, weil das Gericht von der falschen Sprache ausgegangen war. Am Dienstag wird deutlich, warum: Der Mann hat afghanische Eltern, ist aber in Teheran geboren und aufgewachsen. 2015 kam er über Griechenland nach Deutschland.
Vor Gericht in Siegen: 31-Jähriger bedauert Angriff auf Rentner in Obersdorf
Der 31-Jährige macht mehrfach deutlich, wie leid ihm der Vorfall tue, an den er sich aber nicht erinnern könne. „Ich bin kein Mensch, der so etwas macht“, lässt er übersetzen. Seine Erinnerung setze erst mit einem Pieks wieder ein. Der Geschädigte und ein weiterer Mann, der dazukam und mit auf die Polizei wartete, bestätigen dem Gericht die Täterschaft des Angeklagten. Dieser habe ganz ruhig dort gestanden, bis auf einmal ein Bus an der Haltstelle nebenan hielt, in den er dann kurz vor dem Eintreffen der Beamten stieg. Nicht lange danach konnte er festgenommen werden.
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In der später genommenen Blutprobe fanden sich Spuren von Heroin und Clonazepam, einem Beruhigungsmittel. Dies muss auch der Moment des Pieks’ gewesen sein, an den sich der Angeklagte erinnert. Der Arzt hat erklärt, der Proband sei ungewöhnlich benommen gewesen zu diesem Zeitpunkt. Dort liegen die Gründe, die Gutachter Dr. Thomas Schlömer aus Schmallenberg bewegen, dem jungen Mann eine Schuldunfähigkeit für die Tatzeit zu bescheinigen. Dieser hat erklärt, jeden Tag Heroin genommen zu haben, seit etwa vier Jahren abhängig zu sein. An diesem 11. Mai habe er zusätzlich Tabletten von einem Bekannten bekommen und eingenommen, die er bis dahin nicht kannte.
Siegen: Angeklagter stand unter Einfluss von Heroin und einem Beruhigungsmittel
Der Sachverständige führt aus, dass gerade die Kombination dieser beiden Mittel, dazu noch in kleineren Mengen, geeignet sei, einen atypischen, pathologischen Rausch hervorzurufen, dem oftmals eine Amnesie folge. Das passe genau zu den Behauptungen des Angeklagten und den Beobachtungen des Arztes bei der Blutabnahme. Medizinisch nachweisbar sei der Zustand nicht, aber plausibel. Er könne keinesfalls ausgeschlossen werden.
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Anzeichen für eine psychiatrische Erkrankung hat Dr. Schlömer beim Angeklagten nicht gefunden. Er stellt eine Polytoxikomanie fest sowie den Hang, Drogen zu nehmen. Dies lasse weitere Straftaten befürchten, allerdings eher im BTM-Bereich. Ein weiterer Vorfall wie der hier angeklagte mit Amnesie sei dagegen so gut wie ausgeschlossen.
Siegen: Angeklagter muss nicht in Zwangsentzug, will aber freiwillig Therapie machen
Im Register des Angeklagten stehen einige kleine Diebstähle und ein Drogenverstoß. Seit Mai 2021 ist er gar nicht mehr auffällig geworden. Um den Mann in eine Entziehungseinrichtung zu stecken, müssten erhebliche Straftaten zu befürchten sein. Das sehen weder Staatsanwältin Vanessa Prade noch Verteidigerin Petra Heinrich als gegeben. Die Anwältin kann sich freilich vorstellen, dass dies für den Geschädigten alles andere als befriedigend sei: „Aber es ist das, was die Rechtsordnung vorsieht.“ Zu diesem Zeitpunkt sind weder der Rentner noch seine Frau allerdings noch im Raum.
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Das Gericht schließt sich an. Das Urteil daher: Freispruch und keine Zwangsentziehung. Allerdings macht der Vorsitzende deutlich, dass es sehr wohl eine schwere Straftat gegeben habe, „das darf nicht wieder passieren!“ Es sei auch deutlich geworden, dass der Geschädigte bis heute psychisch unter dem Vorfall leide. Die Umstände machten aber einen Freispruch aus rechtlichen Gründen unumgänglich. Für die Unterbringung sei kein Raum. Er hoffe und „kann nur appellieren“, dass der Mann selbst einsehe, wie nötig er Hilfe habe und diese dann auch suche. Wobei der Angeklagte sich bereits vorher beim Geschädigten direkt entschuldigt und erklärt hat, wegen einer Entgiftung und Therapie schon im Kreisklinikum vorgesprochen zu haben.
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