Netphen. Mit dem Ausstellungsprojekt zum jüdischen Leben zeigt das Netphener Museum, wie es sich weiterentwickeln will.

In der Vitrine am Eingang steht ein Leuchter mit dem Davidstern, dabei liegt ein Gebetbuch. In dieser Woche beginnt das jüdische Lichterfest Chanukka. Gegenüber, in der anderen Ecke des Raums, ist ein Juden- und Zigeunerpfahl aufgestellt. Von einem örtlichen Schreiner für das Heimatmuseum nachgebaut, so wie er im 18. Jahrhundert an Stadt- und Dorfgrenzen aufgestellt wurde, um die Fremden abzuschrecken. „Wir haben unterschiedliche Zugänge gewählt“, erklärt Nicole Schmallenbach. Zugänge zu 1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland, das es auch in Netphen gab. Mit der Tischdecke für den Sabbat, die fliegende Löwen zeigt, die die Bundeslade bewachen, verbinden sich Feierlichkeit und Verfolgung: Sie gehörte der Familie Frank aus Weidenau, die 1942 von den Nazis deportiert und ermordet wird.

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Heute: Leben ins Haus bringen

Nicole Schmallenbach, Lothar Schulte und Harald Gündisch sind das neue Team im Netphener Museum. Ihre Ausstellung soll auch dafür stehen, wie das Haus lebendig werden kann: „Ein kleiner, versteckter Schatz, den man heben kann“, sagt Lothar Schulte, der evangelischer Gemeindepfarrer in Netphen war und inzwischen Gefängnisseelsorger in Attendorn ist. Veranstaltungen begleiten die Ausstellung, die Schulen in der Stadt sind eingebunden: Ein Religionskurs des Gymnasiums wird an der Exkursion nach Breendonk bei Antwerpen teilnehmen, der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers. Und die Grundschule plant Workshoptage. Die Kinder werden selbst Dreidel herstellen, die jüdischen Gebetskreisel, und damit spielen lernen. Bei all den Aktivitäten werden Texte, Bilder und weitere Exponate entstehen. „Bei der Finissage wird die Ausstellung anders aussehen als bei der Eröffnung.“

Anita Faber (rechts), Freundinnen: Das Foto aus dem Jahr 1941 ist wohl das letzte, das das jüdische Mädchen vor der Deportation der Familie zeigt.
Anita Faber (rechts), Freundinnen: Das Foto aus dem Jahr 1941 ist wohl das letzte, das das jüdische Mädchen vor der Deportation der Familie zeigt. © Stadt Netphen | Sammlung Joe Mertens

Damals: Erinnerungsstücke

Das Schächtmesser des Metzgers Gustav Faber, das Fotoalbum der Familie Faber, das Poesiealbum von Anita Faber. In Köln, wo Anita Faber in einem israelitischen Kinderheim wohnen und zur Schule gehen musste, hat Margrit Jakob am 16. November 1939 ins Poesiealbum geschrieben: „Ich lag im Garten und schlief, da kam ein Engel und rief: Margrit, Margrit, du musst dich beeilen, um der Anita ins Album zu schreiben“. Aus Köln schreibt Anita am 28. November 1940 an die „liebe Lori“, ihre Netphener Schulfreundin Eleonore Schmallenbach: „Ich kann mich noch so gut entsinnen, als wir vor zwei Jahren bei Jüngstes über den Graben springen wollten und Atterbachs Röschen hinein fiel.“ Auch Ewald Hatzig, bis zu seiner Pensionierung Tiefbauamtsleiter der Stadt, ist mit Anita Faber zur Schule gegangen. Lothar Schulte hat den inzwischen hochbetagten Orts- und Kirchenchronisten befragt; an der neuen Multimediastation des Museums kann das 20-minütige Video mit dem Interview abgespielt werden.

Stolpersteine erinnern in der Lahnstraße an die Familien Faber und Lennhoff.
Stolpersteine erinnern in der Lahnstraße an die Familien Faber und Lennhoff. © WP | Steffen Schwab

Damals: Auslöschung

In einer Vitrine liegt auch ein vom 24. Dezember (!) 1938 datierter Vermerk des Plettenberger Bürgermeisters, bei dem Julius Lennhoff ein Protokoll zu unterschreiben hatte: „Mir ist eröffnet worden, dass ich meine Auswanderung … zu betreiben habe.“ Höchsten drei Wochen wurden ihm gegeben, zumindest bis zum Nachweis, „dass meine Versuche zur Auswanderung greifbare Formen angenommen haben“. Andernfalls, so heißt es im letzten Satz, „habe ich mit einer erneuten Inschutzhaftnahme bezw. mit anderen staatspolizeilichen Maßnahmen zu rechnen.“

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Lennhoff ist mit Bertha, einer Tochter des Metzgers und Viehhändlers Meier Hony, verheiratet. Klara, eine andere Tochter, hat Gustav Faber geheiratet, der in das Haus an der Lahnstraße 4 (damals: Sieglahnstraße) eingezogen ist. Dort findet nun auch die Familie Lennhoff Zuflucht. Der Vermerk aus dem Rathaus, als der Haushalt der Familie Lennhoff von Amts wegen geplündert wurde, listet das Inventar mit Wertangaben auf: Vom Kohlenherd mit 60 Reichsmark, dem Schreibtisch mit 70 RM, dem Kinderbett mit Oberbett und dreiteiliger Matratze mit 100 RM bis zu „drei Läufern (mottenzerfressen) 1 RM“ und „sonstigem Gerümpel wertlos“. Der Vermerk datiert vom 6. April 1943. Da war Julius Lennhoff, der Schwager von Gustav Faber, schon über einen Monat tot.

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Heute: Spuren sammeln

„Wir haben viel rumgefragt“, erzählt Lothar Schulte über das Entstehen der Ausstellung, „und dann sind wir ausgeschwärmt.“ Stadtarchiv in Netphen und Aktives Museum in Siegen sind Fundorte, ebenso die Arbeiten des Historikers Dr. Peter Vitt und der Nachlass von Hartmut Prange, schließlich die Leihgaben der Siegenerin Traute Fries – ihr Vater Wilhelm Fries lebte im Haus des Weidenauer Kaufmanns Samuel Frank, dessen Tochter Inge mit Anita Faber befreundet und mit Julius Lennhoffs Sohn Heinz verlobt war. Auch bei der Netphener evangelischen Kirchengemeinde und bei Kreiskirchenamt wurde das Museumsteam auf der Suche nach Leihgaben fündig. „Wir wurden nett unterstützt“, berichtet Lothar Schulte. Eintritt wird nicht erhoben, vor allem das Begleitprogramm kostet Geld. Die Multimediasäule ist in der Werkstatt des Attendorner Gefängnisses entstanden, „der Fernseher ist geliehen“, ergänzt Harald Gündisch.

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Das Ende

Wer beim Rundgang durch die Ausstellung dem Zeitstrahl folgt, nimmt das Ende jüdischen Lebens in Netphen am Schluss zur Kenntnis. Am 27. April 1942 sieht der 18-jährige Heinz Lennhoff seine Verlobte zum letzten Mal. Die Familie Frank tritt die Fahrt in den Tod an, am 23. Juli erhält er das letzte Lebenszeichen von Inge. Ebenfalls im Juli 1942 wird die Familie Faber deportiert, im Februar 1943 die Familie Lennhoff. Bis Oktober versendet Heinz sechs Postkarten aus einem Arbeitslager in Oberschlesien. Sein Schicksal ist bis heute ungeklärt.

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