Siegen. Benteler-Belegschaft aus Siegen-Weidenau schreibt zu drohender Werksschließung Postkarten an Firmenpatriarchen. Familien geraten in Existenznot.
Hubertus Benteler bekommt viel Post in diesen Tagen. Postkarten aus Siegen, um genau zu sein: Von Werksangehörigen des Benteler-Werks in Weidenau, das wie berichtet Mitte 2022 geschlossen werden soll. Die IG Metall Siegen hatte die Aktion initiiert, mit der die Beschäftigten und ihre Familien an den langjährigen Vorstandsvorsitzenden und inzwischen Aufsichtsrat ihre Sorgen und Ängste schildern angesichts des bevorstehenden Arbeitsplatzverlustes.
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Die private Aktiengesellschaft Benteler mit Sitz in Salzburg hatte unter dem Firmenpatriarchen oft ihre soziale Verantwortung gegenüber den Beschäftigten betont. Nach eigenen Angaben sieht sich Benteler als Familienunternehmen. Hubertus Benteler wird mit dem Satz zitiert: „Werke schließen kann jeder, sogar meine Frau. Umstrukturieren und erhalten kann nur ein Mann wie ich.“
Betriebsrat von Benteler Siegen sieht Industriestandort Siegerland in Gefahr
Daran soll er sich aus Sicht des Weidenauer Betriebsrats, der Belegschaft und der Industriegewerkschaft nun messen lassen. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter konnte Benteler persönlich ansprechen, die Gedanken auf einer Postkarte mitteilen, die die IG Metall vorbereitet hatte. Teilweise wurden die Sendungen mit den Familien gestaltet, Kinder malten Bilder.
„Es geht nicht nur um uns“, betont der Betriebsrat. Der Industriestandort Siegerland laufe Gefahr, ausgeblutet zu werden, wenn immer mehr Konzerne ihre Zweigstellen in der Region zur Ader lassen. Benteler ist nicht das einzige internationale Unternehmen, das derzeit Einsparungen vornimmt, die das Siegerland unmittelbar treffen. Aus Sicht der Arbeitnehmerschaft sind das Maßnahmen mit der Gießkanne, ohne genauere Kenntnisse der Strukturen, der Fähigkeiten, der Motivation vor Ort. Auf Basis nackter Zahlen werde aus der Ferne über Betriebe entschieden und damit über die Schicksale vieler Menschen.
270 Schicksale hängen am Benteler-Werk in Siegen-Weidenau
270 Schicksale sind es in Weidenau. Sie hatten mit allem gerechnet, waren schon viel gewohnt und hatten viel verzichtet – erwartet hatten sie Einschnitte, weitere Kürzungen, aber nicht das Aus. Bis 2024/25 habe man Aufträge zu erfüllen, Kunden Produkte zu liefern, heißt es aus dem Werk. Dazu stehe man und man stehe auch zu Benteler. Gerade am Standort Weidenau verstehe man sich als große Familie, die, angesichts des drohenden Verlusts der Arbeitsplätze, nun gerade zusammenstehe.
Dass die Belegschaft das Aus von einem Tag auf dem anderen hinnehmen musste, unangekündigt, ohne dass der Standortbetriebsrat hinzugezogen und informiert wurde, frustriert, nicht nur im Werk. Die Bevölkerung, die Lokalpolitik hat ihre Solidarität bekundet, sich vor Ort informiert, bis auf Landes-, Bundes- und Europaebene hat Benteler Siegen für Aufruhr gesorgt. Der noch recht junge Betriebsrat muss nun mit dem größtmöglichen Gau umgehen, den kein Arbeitnehmervertreter in seinem Berufsleben je gegenüberstehen will. Und mit einem Arbeitgeber, der offensichtlich am Werk vorbei entscheiden möchte, den Betriebsrat zu umgehen sucht und nur mit dem Konzernbetriebsrat verhandeln will.
Tochter eines Benteler-Mitarbeiters: „Angst, dass Papa keine neue Arbeit findet“
Nur wenige Ereignisse versetzen Menschen stärker in Angst als der Verlust des Arbeitsplatzes. Daran, am regelmäßigen Einkommen hängt so vieles: Die Miete, die Ausbildung der Kinder, die Pflege der Eltern. „Ich habe Angst davor, weil Papa ja die Arbeit verliert, dass wir kein Geld mehr haben und dass Papa keine neue Arbeit findet. Deine Lotta“, schreibt ein Mädchen. Und malt ein Firmengebäude darunter. Und ein Geldstück. Beides mit schwarzem Stift durchgestrichen.
Auf einer anderen Karte wird Astrid Lindgren zitiert: „Wenn Pippi Langstrumpf jemals eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die, zu zeigen, dass man Macht haben kann und sie nicht missbraucht. Das ist wohl das Schwerste, was es im Leben gibt.“ Und ein anderes Mädchen: „Hallo Herr Hubertus Benteler, bitte nimm meinem Papa nicht die Arbeit weg! Ich fände es blöd, wenn sie meinem und vielen andere Mamis und Papis ihre Arbeit stehlen.“
Benteler-Mitarbeiter in Siegen „Ohne was zu sagen auf Überstunden und Lohn verzichtet“
Auch ehemalige Beschäftigte berichten von ihrer Verzweiflung: „Ich stand Ihnen immer zur Seite, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich habe alle Schichten mitgemacht, meine Kinder und Familie hinten angestellt. (...) Beschwerte ich mich? Nein! Ich habe ohne was zu sagen auf Überstunden und Lohn verzichtet, um die Firma zu erhalten, die mir in 41 Jahren ans Herz gewachsen ist. Jetzt frage ich Sie wofür?“
Der Betriebsrat hat seine Zweifel, dass Hubertus Benteler die Postkarten lesen wird.
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