Unglinghausen. Elvira Wittwer betreut ihre Kinder beim Homeschooling, arbeitet und macht den Haushalt – ein 16-Stunden-Job: „Wir als Menschen gehen unter“
„Mama? Was muss ich noch nach der Soße auf den Auflauf machen?“ Der 7-jährige Lias überlegt kurz, sieht dann seine Kaugummis auf dem Esstisch stehen und ist abgelenkt. Er muss als Deutschaufgabe heute sein Lieblingsrezept aufschreiben, kochen, abfotografieren und zur Lehrerin schicken.
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Mutter wird zu Multitalent
Seine Mutter Elvira Wittwer sitzt neben ihm, hilft ihm bei allen Aufgaben. „Alleine kann Lias nicht arbeiten, er braucht meine Hilfe. Er hat in der zweiten Klasse noch nicht gelernt, wie man alleine lernt“, sagt die 36-jährige Mutter. Ihr Mann ist Energieelektroniker und kann kein Homeoffice machen, sie ist häufig alleine mit ihren drei Söhnen.
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Lockdown und Homeschooling bedeutet für die dreifache Mutter: Hausfrau, Lehrerin, Spielgefährtin und zahnmedizinische Fachangestellte in einem zu sein.
Siegener Familie zwischen Homeschooling und Lockdown-Alltag
Es ist Dienstag – als es das Homeschooling noch nicht gab, eigentlich immer ihr freier Tag. Dann konnte sie viel im Haushalt oder auch mal für sich selbst erledigen. „Ich stehe jetzt immer morgens früh auf, so gegen halb 6. Dann kann ich, bevor meine Kinder wach sind, noch was im Haushalt erledigen“, sagt Elvira Wittwer. Alles andere muss dann erst einmal warten. Denn wenn die Kinder wach sind, will sie, dass diese auch einen einigermaßen geregelten Tagesablauf haben: „Ich achte schon drauf, dass die Kinder um acht Uhr vor ihren Aufgaben sitzen, so wäre es schließlich auch in der Schule.“
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Sie kommt nicht viel zu anderen Sachen, muss ständig für ihre Kinder da sein, Fragen beantworten, sich um den einjährigen Matteo kümmern oder hat auch mal einen Arzttermin, den sie wahrnehmen muss. „Ich bin mit allem so gegen halb zehn abends durch. Meistens gehe ich dann auch schon ins Bett. Denn am nächsten Morgen geht alles wieder von vorne los. Wir als Menschen gehen unter.“
Lernrückschritt bei Zweitklässler Lias
„Ich verstehe nicht, was da steht“, sagt Zweitklässler Lias. Das Deutschrezept ist geschrieben, es war eine Aufgabe vom Vortag. Zeitlich einfach nicht geschafft. Jetzt folgen die Matheaufgaben von heute. Lias braucht auch dabei Hilfe, sichert sich bei seiner Mutter ab, ob er die Aufgabe auch richtig verstanden hat. Sie weiß, dass es für ihren Sohn eine deutliche Umstellung sein wird, wenn er wieder in der Schule ist und nicht ständig jemand neben ihm sitzt.
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„Ich merke einen deutlichen Lernrückschritt bei Lias. Jonas konnte mit sieben Jahren schon mehr“, sagt Elvira Wittwer, während sie mit einer Hand den kleinen Matteo im Maxi-Cosi in den Schlaf schaukelt. Eigentlich soll und will sie nicht ständig neben Lias sitzen und ihm helfen, aber es geht nicht anders. „Er ist sonst ständig abgelenkt, er braucht zu den Aufgaben oft eine Erklärung. Wer soll sie ihm geben, wenn nicht ich?“
Siegener Lehrer zeigen viel Verständnis
Lias geht in die zweite Klasse der Diesterwegschule in Siegen und Jonas in die 5. Klasse der Freien christlichen Sekundarschule. Die Lehrer hätten viel Verständnis, wenn mal eine Aufgabe ein wenig später abgegeben wird. „Meine Kinder kriegen Arbeitsblätter und Wochenpläne per Mail zugeschickt. Sie haben Videokonferenzen, damit die Lehrer den Kontakt zu den Schülern nicht komplett verlieren.“
Halbjahreszeugnisse mit wenig Aussage
„Jonas hat seine Klausuren alle vor dem zweiten Lockdown geschrieben. Deshalb konnten die Lehrer jetzt auch Noten geben“, sagt Elvira Wittwer.
Sie findet aber, dass Vokabeltests oder auch abgeschickte Arbeitsblätter wenig Aussagekraft über Jonas können haben, schließlich kann auch er ständig nachfragen oder Lösungen im Internet nachschlagen.
Elvira Wittwer glaubt nicht, dass ihre Jungs im Homeschooling viel lernen. Es fehlt der direkte Input vom Lehrer. „Durch Aufgabenblätter lässt sich eben nicht alles vermitteln.“ Ein großes Problem sieht Elvira Wittwer in der Ablenkung zu Hause. Die Menge der Aufgaben von Zweitklässler Lias sei nicht das Problem, „aber wenn dann der große Bruder auch noch hier rum läuft oder er von seinen Spielsachen abgelenkt ist, brauchen wir für die Aufgaben, die eigentlich in zwei Stunden erledigt wären, auch gerne mal fünf Stunden.“
Digitale Endgeräte fehlen bei Siegener Familie
„Mama? Kannst du mal kurz diese Fragen hier beantworten?“ Der neunjährige Jonas kommt ins Wohnzimmer und legt seiner Mutter einen Zettel auf den Tisch. Er nimmt gerade in seinem Zimmer an einer von drei Videokonferenzen teil. „Was soll ich da machen? Wofür ist das?“, fragt Elvira Wittwer noch, keine Antwort. Die Konferenz, mit der er über das Smartphone teilnimmt, geht weiter. Denn die Familie hat nur ein Tablet und das braucht jetzt Lias für seine Aufgaben. „Die Schule setzt voraus, dass wir solche Geräte zu Hause haben. Aber ein Tablet ist teuer und es muss auch noch eines von Apple sein, die sind besonders teuer.“ Die Schulen bieten auch an, Endgeräte zu verleihen, aber das will Elvira Witter nicht. Ihr ist das Risiko zu hoch, dass ein geliehenes Gerät kaputt geht, denn dann müssten sie das Tablet komplett bezahlen. Sie füllt den Fragebogen aus, den ihr Jonas hingelegt hat, während sie Lias darauf hinweist, dass er sich jetzt auf seine Matheaufgaben konzentrieren soll.
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„Ich verstehe Eltern, die ihre Kinder öfter auch mal vor den Fernseher setzen, weil sie nicht mehr können“, sagt die 36-jährige Mutter. Seitdem die Vereine geschlossen haben, ist der 9-jährige Jonas unausgeglichen, sonst ging es vier Mal in der Woche zum Sport. Gesellschaftsspiele oder die Legosteine sind für die beiden Jungs uninteressant geworden und vor die Spielekonsole geht es höchstens für eine Stunde in der Woche. „Ich will nicht, dass meine Jungs nur noch rumsitzen und vor den Bildschirmen hängen. Man muss sich irgendwas einfallen lassen. Ich bin sehr froh, dass wir hier einen großen Garten haben. Ich will nicht wissen, was Familien machen, die keinen haben.“
Outdooraktivitäten als Ausgleich
Sie schickt ihre Kinder bei Wind und Wetter zum Spielen und Austoben vor die Tür. „Ich mache mit ihnen Sport. Jonas hat Sportübungen von seinem Lehrer zugeschickt bekommen. Die machen wir später zusammen, okay?“ Jonas wirkt nicht wirklich motiviert: „Ich vermisse den normalen Unterricht und auch meine Freunde.“ Er scheint selbst für die Sportübungen unmotiviert zu sein. Die Kinder durften sich jeweils drei Freunde aussuchen, mit denen sie sich abwechselnd zu zweit treffen dürfen, „wenigstens ein paar soziale Kontakte“. Elvira Wittwer fragt sich, wie lange sie und ihre Kinder die Lockdown- und Homeschooling-Situation noch aushalten müssen und wünscht sich ihren normalen Alltag zurück, „auch wenn der ebenfalls stressig war. Er war strukturiert. Wir hatten Termine und feste Abläufe. Sie fehlen sehr.“
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An drei Tagen in der Woche gehen ihre Kinder in die Notbetreuung ihrer Schulen, Matteo ist dann bei einer Tagesmutter, denn Elvira Witter ist zahnmedizinische Fachangestellte. „Ich bin wirklich froh, dass ich meine Arbeit habe. So komme ich auch mal raus und sehe wenigsten mal was anderes. Dann kann ich ein paar Worte mit meinen Kollegen wechseln“, sagt sie. Lias hat seine Matheaufgaben zur Hälfte geschafft: „Ich kann nicht mehr. Die Aufgabe ist zu schwierig.“ Elvira Wittwer wechselt schnell von der Lehrer- in die Mutter-Rolle: „Wenn du die Aufgabe jetzt noch gut schaffst, bekommst du eine kleine Belohnung“, sagt sie. Und lächelt.
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