Siegen. Kreidesprüche in der Siegener Innenstadt sollen auf Belästigung aufmerksam machen. Wir waren bei einer Ankreideaktion mit dabei:

„Ey, du geiles Bückstück!“; „#catcallsofsiegen“; „Ich hoffe alle Frauen werden vergewaltigt!“ Sprüche, die in den vergangenen Wochen in der Siegener Innenstadt mit Kreide auf den Boden geschrieben zu finden waren. In Siegen wird von acht Frauen angekreidet, die auf Instagram die Seite „catcallsofsiegen“ ins Leben gerufen haben.

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Ihre Mission: Menschen sensibilisieren, aufklären, aufmerksam machen auf Catcalls. Das Catcalling bezeichnet eine Art der Belästigung durch Fremde, meist im öffentlichen Raum. Belästigungen können in Form von unerwünschten Äußerungen gegenüber Personen, aber auch provokative Gesten wie das Hinterherpfeifen oder sogar eine unsittliche Entblößung stattfinden. Gruppen, die für Catcalls sensibilisieren wollen, gibt es in vielen deutschen Städten und auch in anderen Ländern. Die Idee kam 2016 aus New York: Eine Studentin hatte dort angefangen, Catcalls auf die Straße zu schreiben. Durch die ungefragten „Komplimente“ wird ein Machtverhältnis deutlich gemacht: Der vermeintliche Komplimentgeber nimmt sich das Recht heraus, ungefragt eine Aussage über eine fremde Person zu tätigen und sie damit in der Öffentlichkeit zu konfrontieren.

Screenshots von dem Instagram Account
Screenshots von dem Instagram Account "Catcallsofsiegen". © Instagram @catcallofsiegen

Was oder wer sind #catcallsofsiegen?

November 2020: Die Frauengruppe „catcallsofsiegen“ gründet sich. Es sind acht junge Frauen – ihre Namen wollen sie nicht nennen. Sie wollen nicht im Mittelpunkt ihrer Aktionen stehen. Es sind die Zusendungen von betroffenen Personen, die sie über ihren Instagram-Account erhalten, die im Fokus stehen. Die Gruppe verbreitet die Geschichten dann anonym in der Siegener Innenstadt an den Orten, an denen die jeweiligen Beleidigungen stattgefunden haben. „Uns war Catcalling nicht fremd, auch wir haben es schon öfter erlebt. Wir wollen die Menschen aufmerksam auf unsere patriarchalische Gesellschaft machen“, sagt ein Gründungsmitglied.

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„Es kommt auf den Inhalt der Äußerung und auf die Beziehung zueinander an“, sagt die Siegenerin. Ein „Lächel’ doch mal“ kann schon übergriffig sein, wenn es von einer fremden Person gesagt wird. Ausschlaggebend seien auch Ort und Zeit. Wenn einer Frau abends eine solche Aufforderung hinterhergerufen würde, sei man ängstlicher und würde sich eventuell mehr Gedanken machen als am helllichten Tage.

Sprüche werden an Orte des Geschehens geschrieben

Dienstag, 10. Dezember, 12 Uhr: Anna (Name von der Redaktion geändert) hat einen Kreideeimer in der Hand. Heute geht sie wieder ankreiden, diesmal alleine, aber es ist Mittagszeit und heute ist sie nur in der Siegener Innenstadt unterwegs. Sie gehört zum Gründungsteam von „catcallsofsiegen“ und kreidet schon zum vierten Mal an. „Vorher bin ich immer etwas aufgeregt und hoffe, dass alles gut geht“, sagt sie.

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Entschlossen geht sie in Richtung Extrablatt. Eine Frau hat der Gruppe über Instagram geschrieben, dass sie dort mehrmals von einem Mann angesprochen wurde, sie ihn aber immer wieder zurückgewiesen hat. Daraufhin sagte der Mann: „Ich hau’ dir auf die Fresse, du kleine Schlampe.“ Wenn Anna so etwas liest, dann empfindet sie Wut. Das Ankreiden sei für sie ein kleiner Teil, den sie gegen solche Belästigungen tun kann. Die Frauengruppe schreibt die Sprüche immer an die jeweiligen Orte des Geschehens. Anna fängt an zu schreiben, währenddessen ist sie ruhig, eine gewisse Spannung liegt in der Luft.

„Catcalling gehört zur Lebensrealität, zum Stadtbild“

Passanten bleiben vereinzelt stehen, um zu lesen, was sie da aufschreibt. Ab und zu steht Anna auf und wechselt die Farbe der Kreide: „Jede Aussage wird in einer anderen Farbe angekreidet und die Hashtags ebenfalls. Das erweckt auch ein wenig mehr Aufmerksamkeit“, sagt sie. Ein junger Mann bleibt kurz stehen und zeigt „Daumen hoch“.

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Nach dem Ankreiden bleibt sie noch kurz stehen, viele Menschen gehen auch einfach über die Kreideschrift hinweg, ohne sie auch nur angesehen zu haben: „Das ist ok. Catcalling gehört zur Lebensrealität, zum Stadtbild. Menschen nehmen eben nicht alles im Stadtbild war, so auch das Catcalling nicht“, sagt sie. Das sei auch eine Art der Verdrängung. Bei einer früheren Ankreideaktion habe eine ältere Frau nachgefragt worum es gehe. Als ihr erklärt wurde, dass es um sexuelle Belästigung ginge, ist sie schnell weitergegangen: „Mit sowas will ich nichts zu tun haben!“

„Und jetzt die Dokumentationsarbeit“: Anna macht ein Foto von dem Kreidespruch und nimmt den Kreideeimer wieder in die Hand.

Screenshots von dem Instagram Account
Screenshots von dem Instagram Account "Catcallsofsiegen". © Instagram @catcallofsiegen

Die meisten Belästigungen erfolgen in der Siegener Innenstadt

Entschlossen geht sie weiter zum Apollo-Theater. Hier hat ein Mann einer Frau hinterhergerufen: „Süße! Nimm’ mal deine Maske ab. Ich will dein Gesicht sehen“. „Das erscheint vielleicht nicht für jeden schlimm, aber es ist eine Aufforderung einer fremden Person. Der Mann wollte klar machen, dass er Macht über diese Frau haben wollte“, erklärt Anna. Wieder gucken Menschen auf das, was Anna aufschreibt, aber es bleibt niemand stehen oder fragt nach. „Eigentlich gehen wir ja auch mit mehreren Ankreiden. Dann kann immer einer von uns interessierte Leute ansprechen.“

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Es geht zügig weiter Richtung Gericht. Die Brücke dort ist der nächste Schauplatz. Anna legt den Weg zwischen ihren Stationen schnell zurück. Die Situation an der Brücke: Eine Frau wollte am helllichten Tag die Brücke überqueren, ein Mann stellte sich ihr in den Weg und wollte Kontakt zu ihr aufnehmen. Sie versuchte mehrfach auszuweichen, bis sie ihm sagte, dass sie weitergehen will.

Catcalling- Petition in Deutschland

Er schrie sie an: „Hure! Schlampe.“ Mehr weiß die Frau nicht mehr, erklärt sie in dem Text, den sie der Gruppe zugeschickt hat. Sie hat es verdrängt und die Brücke meidet sie seitdem. „Das ist so traurig, dass einem die eigene Stadt oder Plätze durch so etwas genommen werden“, sagt Anna. Für heute ist sie fertig. Anspannung und Aufregung fallen ab: „Personen, die in den Catcall-Situationen still gemacht wurden, haben jetzt ihre Stimme wieder und die Öffentlichkeit kriegt es mit.“ Sie lächelt und wirkt dabei erschöpft, aber gut gelaunt.

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In Frankreich ist das Catcalling seit 2018 strafbar und wird mit Geldstrafen geahndet. In Belgien, Portugal und den Niederlanden ist die verbale sexuelle Belästigung illegal. In Deutschland wird über eine Gesetzesänderung diskutiert.

Im August 2020 wurde eine Petition gestartet: openpetition.de/petition/online/es-ist-2020-catcalling-sollte-strafbar-sein

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