Siegen. Siegens Bürgermeister Steffen Mues spricht im Interview über Sorgen in der Corona-Krise, Anfeindungen und Veränderungen in der Gesellschaft.

Fast alles wurde auf den Kopf gestellt. Und fast nichts lässt sich mit wirklich hundertprozentiger Sicherheit sagen. In der Pandemie mussten Politik und Verwaltung trotzdem viele, teils sehr einschneidende Entscheidungen treffen. Florian Adam sprach mit Siegens Bürgermeister Steffen Mues über wirtschaftliche Einbußen, Anfeindungen und die Grenzen von Video-Konferenzen.

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Bürgermeister in der Corona-Krise – wachen Sie da morgens bereits mit der Sorge auf: ,Was kommt heute wieder auf uns zu?’

Im März/April war das tatsächlich so. Da fragte ich mich morgens als Erstes, was am Tag geschehen wird – dienstlich, aber auch in der Welt, das ging wohl den meisten Leuten so. Das ist jetzt routinierter. Wir wissen, welche Möglichkeiten wir haben. Aber zu Beginn der Krise, wo auch auf Landes-, Bundes-, Weltebene niemand wusste, wie mit dem Virus umzugehen ist...

Siegens Bürgermeister Steffen Mues: „Ich kann mit auf meine Leute verlassen“

Wie findet man in einer solchen Situation als Entscheidungsträger seinen Weg?

… indem man mit den engsten Mitarbeitern einen Plan macht. Wir hatten – zufälligerweise – kurz vorher unseren Krisenstab neu organisiert. Es gab klare Dienstanweisungen, wer was wann und in welcher Situation zu tun hat. Ich wusste also, wer die Mitglieder sind und wen ich zusammenrufen muss. Und ich wusste, ich kann mich auf meine Leute verlassen. Die sagen mir nämlich auch, wenn ich mal falsch liege.

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Ein praktischer Zufall...

Das hat uns vielleicht ein, zwei Tage vor die Lage gebracht. Wir standen eigentlich kurz davor, eine Trockenübung zu machen. Dann kam Corona . Schon Ende Februar hatten wir eine Sitzung. Da wussten wir zwar noch nicht, was genau auf uns zukommt. Wir hatten uns aber darauf eingestellt, dass wir Einiges schließen müssen.

Die Lockdown-Entscheidungen stoßen bei manchen Menschen auf reichlich Widerstand, der sich gerade in den sozialen Medien oft recht aggressiv Bahn bricht. Werden Sie angegangen?

Ich denke, man muss aufpassen, dass man nicht einen völlig falschen Eindruck von der öffentlichen Meinung bekommt, weil man sich auf wenige konzentriert, die dann aber sehr laut sind. Fakt ist: Der größte Teil auch der Siegener Bevölkerung hält die Maßnahmen für sinnvoll. Fakt ist aber auch, dass ich gerade im Internet beschimpft worden bin – mehr als sonst. Das war davor zuletzt so, als 2015 Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Das war damals aber noch schlimmer, weil es oft so unmenschlich war.

Siegen: „Ich sehe auch, wie Leute unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie angreifen“

Und im direkten Kontakt mit den Menschen?

Ich werde jetzt auch manchmal auf der Straße – naja, nicht unbedingt beschimpft, aber schon auf aggressive Art angegangen. Oft gepaart damit, dass das Virus geleugnet oder die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen angezweifelt wird. Wenn ich beispielsweise zufällig neben einem Maskenpflichtschild stehe und jemand sagt, dass es ja für diese Maskenpflicht gar keine gesetzliche Grundlage gäbe….

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Doch. Das Infektionsschutzgesetz.

Klar. Aber viele Leute, das ist mein Eindruck, haben kein wirkliches Verständnis mehr für Rechtsstaatlichkeit. Ich sehe auch, wie Leute unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie angreifen. Und wie Sie Zusammenhänge vermischen.

Indem sie sich beispielsweise mit Anne Frank oder Sophie Scholl vergleichen?

So etwas gab es auch in Siegen. Bei einem Flugblatt, das wohl in fast allen Briefkästen gelandet ist und diese Querdenker-Ideen aufgriffen hat, fragte ich mal nach, wieso es kein Impressum gäbe. Die Antwort war: Der Widerstand während des Nazi-Regimes hätte ja auch kein Impressum gedruckt. Da war ich sprachlos.

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Sie suchen den Dialog?

Wenn ich angesprochen werde, versuche ich, mit den Leuten zu reden. Manche akzeptieren meinen Standpunkt auch. Aber manche werden mit jedem Argument, das man bringt, aggressiver. Zum Glück nur verbal. Was mir eher entgegenschlägt, sind Verschwörungstheorien. Wir als Stadt stecken als Erfüllungsgehilfen natürlich mit drin – ob es nun um Bill Gates geht oder darum, dass es Corona nur gibt, damit die Reichen noch reicher werden. Ich frage mich nur: Was für Reiche? Ich kenne viele Unternehmer, die derzeit in die Knie gehen. Würden wir in so einer Verschwörung mit drinhängen, da wären wir ja schön doof: Denn wir werden als Stadt gerade finanziell gebeutelt.

Steffen Mues: „Ich glaube, die meisten Leute ticken ähnlich wie ich“

Sinkende Steuereinnahmen, gefährdete Arbeitsplätze und Existenzen: In die Stadtkasse schlägt Corona Lücken?

Für 2020 und 2021 sind finanzielle Hilfen des Bundes und des Landes in Aussicht. Ich fürchte aber, dass uns die finanziellen Folgen dieser Krise viel länger treffen. Dabei haben wir uns gerade erst von der Finanzkrise erholt. Für 2019 haben wir seit 2007 zum ersten Mal wieder einen ausgeglichenen vorläufigen Haushaltsabschluss. Was jetzt noch hinzukommt, ist eine höhere Ungewissheit. Wie wird sich die Gewerbesteuer ab 2022 entwickeln? Wie sollen wir planen?

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Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Erfahrungen der vergangenen Monate Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft verändern könnten – gerade auch, was Gastronomie und Einzelhandel betrifft.

Das ist eine meiner größten Sorgen: Dass sich die Lebensgewohnheiten auch nach der Krise so verändern, dass die Geschäfte und Restaurants, die diese Phase überstehen, hinterher auf Kunden warten müssen. Da müssen sich alle – auch wir – etwas einfallen lassen, um die Leute wieder in die Innenstädte zu bringen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass viele Menschen nach der Krise gerne wieder ausgehen, dass sich nicht nur alles in den eigenen vier Wänden abspielen wird.

Viele Unternehmen erkennen aber in der derzeitigen Lage doch, wie viel sich über Home-Office und Video-Konferenzen regeln lässt. Und wie viel Geld das spart.

Ich glaube, die meisten Leute ticken ähnlich wie ich: Video-Konferenzen oder Distanzveranstaltungen sind ein Mittel, aber kein Ersatz. Das sehe ich auch bei Schülern, die mich ansprechen. Die sind froh, dass sie die Kontakte in der Schule haben. Digitalisierung ist wichtig, ganz klar. Aber sie ersetzt Präsenzunterricht nicht. Und das ist auch im Arbeitsleben so. Eine Video-Konferenz spart etwa Anfahrtszeit und funktioniert gut, wenn man sich im Grunde einig ist. Aber wenn es kontrovers wird, wird es schwieriger. Ich glaube, zu einer gewissen Diskussionskultur gehört, dass man sich gegenüber sitzt.

„Alles, was mit Corona zu tun hat, ist neu und muss sich erst einspielen“

Wie kommen Sie persönlich mit der derzeit erforderlichen Distanz und den Beschränkungen zurecht?

Ich bin jemand, der grundsätzlich sehr gesellig ist. Von daher ist es nicht ganz einfach.

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Die Corona-Problematik kommt zum üblichen Tagesgeschäft hinzu. Ist ihre Arbeitsbelastung höher?

Das geht, denn es fällt ja auch viel weg. Die Büroarbeit ist mehr geworden. Dafür gibt es weniger Gremien-Sitzungen, und Repräsentation entfällt fast komplett. Das Problem ist eher, dass man an so viel denken muss. Und man muss auch Ideen haben, wie Dinge zu regeln sind. Nehmen Sie nur den Zugang zum Rathaus. Da müssen die Bürger jetzt immer Termine machen, da will alles organisiert sein. Man hat plötzlich ganz andere Aufgaben. Und alles, was mit Corona zu tun hat, ist neu und muss sich erst einspielen.

„Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen sagen: ,Wir bauen alles wieder auf’“

Sie wurden im September als Bürgermeister wiedergewählt. Wie sehr hilft die Berufserfahrung in der aktuellen Lage?

Wenn ich jetzt zum ersten Mal Bürgermeister geworden wäre, hätte ich das Amt auf eine Art kennengelernt, wie es eigentlich gar nicht funktioniert; in einer Situation, wo sehr viel improvisiert wird – in kleinen und großen Dingen – und in der man dann noch Entscheidungen treffen muss. Da helfen 13 Jahre Erfahrung schon, weil man weiß, wie man Improvisieren organisiert.

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Wie sehen Sie in die Zukunft?

Ich hoffe, dass der Impfstoff bald kommt, und dass die Menschen so viel Vertrauen haben werden, dass sie sich impfen lassen und wir wieder zur Normalität zurückfinden können. Aber ich glaube, die Schäden werden noch länger bestehen. Es geht mir dabei nicht nur um Geld oder Geschäfte. Die Dorfgemeinschaften etwa mussten durch ein Jahr ohne Veranstaltungen, Feiern, Backesfeste. Sowas ist aber unheimlich wichtig für das Zusammenleben, und ich habe die Sorge, dass einige Vereine vielleicht nicht die Kraft haben, weiterzumachen. Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen, auch in der Kultur, im Sport, überall, sagen: Wir bauen alles wieder auf.

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