Siegen.. Depressionen sind weit verbreitet, das Thema aber tabuisiert. Das muss sich ändern, findet Bärbel Müller-Späth vom Bündnis gegen Depression.



Depressionen sind zwar weit verbreitet – aber kaum jemand spricht offen darüber. Das Bündnis gegen Depression Olpe-Siegen-Wittgenstein möchte das Thema in die Öffentlichkeit tragen, informieren und aufklären. Wichtiges Instrument ist die Mut-Tour, die nicht nur die Fahrrad-Aktion von Sebastian Burger nach Siegen führt, sondern bis November diverse Programmpunkte bietet. Florian Adam sprach mit Bärbel Müller-Späth von der Bündnis-Geschäftsstelle.

Was ist Depression überhaupt?

Eine Erkrankung. Sie kann jeden treffen, in jedem Alter, und hat ganz unterschiedliche Gesichter. Manche Menschen sind unruhig und schlaflos, andere kommen nicht mehr aus dem Bett. Viele Menschen stellen zunächst körperliche Symptome fest – Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit, Magen-Darm-Beschwerden. Hausärzte klären dann in der Regel zunächst einmal das Körperliche ab. In den vergangenen Jahren hat sich da aber viel getan, sodass Hausärzte oft früher auch in Richtung Depression denken. Eine Depression kann, vor allem wenn sie früh erkannt wird, gut behandelt werden. Darum ist Information so wichtig – und dass Leute sich trauen, sich Hilfe zu suchen. Aber der Weg, das Problem zu akzeptieren, ist oft lang.

Wie sieht die Behandlung aus?

Betroffene brauchen erst einmal die Erkenntnis, dass sie etwas tun müssen: sich an einen Arzt wenden, einen Therapeuten suchen – und vielleicht auch bereit sein, Medikamente zu nehmen. Oft ist es eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und Therapie. Dabei lernen Betroffene auch, auslösende Faktoren für die depressiven Zustände zu erkennen und rechtzeitig körperliche Signale wahrzunehmen, die ihnen zeigen: Du gerätst wieder in dieses Fahrwasser. Viele, die eine Depression erlebt haben, ändern danach ihr Leben, was die Prioritäten angeht.

Das Thema ist noch tabuisiert?

Ja. Für Männer ist die Diagnose dabei oft noch schwieriger zu akzeptieren als für Frauen. Eine Frau kann sich das fast noch erlauben – aber ein Mann? Der muss in unserer Gesellschaft tough und cool sein. Darum ist es für uns auch so wichtig, dass betroffene Männer sich an unseren Aktionen beteiligen und über ihre Erfahrungen sprechen.

Sie setzen unter anderem auf öffentliche Infostände – kommt vor aller Augen überhaupt jemand?

An unserem ersten Stand, 2012 in der Bahnhofstraße in Siegen, da sind nur wenige Leute stehen geblieben. Zwei Jahre später standen wir vor dem Sieg Carré. Da lief es schon total gut: Wir hatten 80 wirklich ernste Gespräche mit Betroffenen oder Angehörigen, die fragten, was es für Möglichkeiten zur Hilfe gibt.

Wie sollten Betroffene und ihr Umfeld mit der Krankheit umgehen?

Wichtig ist, dass man darüber redet. Nicht nur unter Erwachsenen, sondern gerade auch, wenn Kinder da sind, für die beispielsweise die Depression eines Elternteils nur sehr schwer zu verstehen ist. Je mehr man darüber schweigt, um so mehr trägt man zu dem Tabu bei.

Selbst nicht-betroffene Erwachsene tun sich oft schwer, Depressionen zu verstehen. Da kommen Sätze wie „Reiß Dich doch mal zusammen“...

Ja, es gibt da so Sprüche, die die Leute draufhaben – ,Komm doch mal aus dem Quark’ oder sowas. Daran zeigt sich, dass die Krankheit nicht ernstgenommen wird. Gesunde Menschen werden auch schnell ungeduldig, weil für sie nicht nachzuvollziehen ist, wieso jemand beispielsweise eine Stunde lang überlegt, ob er sich nun Wurst oder Käse aufs Brot legen soll, und in dieser Zeit nur auf seinen Teller starrt. Da kommt es auch schnell zu Vorwürfen. Natürlich ist das etwas, was einen Depressiven zusätzlich sehr belastet. Aber das Gegenüber fühlt sich oft auch hilflos.

Seit einigen Jahren wird viel von Burnout gesprochen.

Eine gesellschaftsfähige Umschreibung für Depression.

Weil der Begriff impliziert, dass dem Zusammenbruch extreme Leistungen vorausgingen?

Die Frage ist eher, wieso Menschen überhaupt in so eine Überforderung geraten. Wenn jemand zum Beispiel immer 150 Prozent gegeben hat, bis es nicht mehr ging: Warum hat er das überhaupt gemacht? Oft hat das mit einem extrem hohen Anspruch an sich selbst zu tun. Dann muss man lernen, von diesem Perfektionismus herunterzukommen. In manchen Fällen müssen aber auch Arbeitgeber Dinge hinterfragen – beispielsweise, ob ein Vorgesetzter einen Anteil haben könnte, wenn in seiner Abteilung vermehrt Leute ausfallen.

Das Bündnis gegen Depression Olpe-Siegen-Wittgenstein ist ein Zusammenschluss aus Einrichtungen, Krankenhäusern und Beratungsstellen. Wie kam es dazu?

Wir sind 2008 gestartet, mit einer Auftaktveranstaltung in Kreuztal. Es geht aber zurück auf das Jahr 2005. Damals hat die Bezirksregierung Arnsberg die Kreise und kreisfreien Städte angeschrieben und auf ein Pilotprojekt in Nürnberg hingewiesen. Dort hatte sich ein Bündnis gegen Depression gegründet, um zu erforschen, ob durch bessere Aufklärung die Suizidrate gesenkt werden kann. Es wurde überall in Nürnberg plakatiert. Im Kino liefen vor den Filmen Spots zum Thema, es gab Schulungen für alle, die mit Menschen zu tun haben: Ärzte, Pfarrer, Lehrer, Apotheker. Alles, um die Aufmerksamkeit der Leute für das Gegenüber zu schärfen und im Bedarfsfall Hilfe anbieten zu können.

Sank die Suizidrate?

Die ersten paar Jahre war das schon deutlich, ja. Aber in der Größenordnung war das ein einmaliges Projekt und sehr teuer.

Arnsberg griff den Ansatz auf?

Die Bezirksregierung hat uns aufgefordert, zu überlegen, ob wir auch so ein Bündnis aufbauen können. Das haben wir getan. Deutschlandweit gibt es heute etwa 80 Bündnisse. In Olpe-Siegen-Wittgenstein treffen wir uns alle sechs Wochen, um uns über den neuesten Sachstand und Kampagnen zu informieren.

Ein Aspekt der Mut-Tour ist eine Fahrradtour mit Etappen durch ganz Deutschland. Wie kann das Menschen mit Depressionen helfen?

Bei der Mut-Tour geht es um Mut haben, aktiv werden, gegen die Krankheit angehen. Sebastian Burger hat das Konzept entwickelt, um Öffentlichkeit zu schaffen und die Depression in Deutschland aus der Tabuzone herauszuholen. Er wollte eine Aufklärungskampagne machen und zeigen: wenn man aktiv ist – Radfahren, Laufen, Schwimmen – kann man schneller aus der Krankheit herauskommen und sich gesund halten. Es geht auch darum, wieder ein Ziel anzugehen. Außerdem: Wer sich körperlich verausgabt und eine gesunde Erschöpfung empfindet, spürt oft den Unterschied zu der Erschöpfung, die die Depression mit sich bringt.

Die positive Wirkung von Sport bei Depressionen ist erwiesen?

Ja. Wir als Bündnis sind seit Jahren mit einer Laufgruppe beim Firmenlauf dabei. Wir tragen alle die gleichen Trikots, darum ist nicht ersichtlich, wer depressionserfahren ist und wer nicht. Das braucht ein depressiver Mensch auch: Dass er weiß, dass er etwas machen und schaffen kann, dass er Teil einer Gemeinschaft ist.

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