Siegen. . Die Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der DRK-Kinderklinik arbeitet auch mit essgestörten Kindern und Jugendlichen.
Die einen hungern sich auf lebensbedrohliche Zustände herunter, die anderen essen ohne jedes Maß: Essstörungen mussten laut einer Mitteilung der IKK Südwest im Jahr 2016 deutlich häufiger behandelt werden als noch sechs Jahre zuvor, besonders „alarmierend ist der Anstieg bei Kindern“. Die Ursachen und den Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen erläutert Beate Stocks, Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der DRK-Kinderklinik in Siegen, im Gespräch mit Florian Adam.
Setzen sich Kinder und Jugendliche heute mehr als früher mit ihrem Aussehen auseinander?
Beate Stocks: Wir sehen einen Trend unter Jugendlichen, sich verstärkt mit dem Äußeren zu beschäftigen. Eine Hypothese dazu ist, dass das etwas mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hat: Die Vergleichsmöglichkeiten sind heute andere.
Haben junge Menschen sich nicht schon immer Gedanken über ihr Äußeres und ihre Figur gemacht?
Klar, das gab es früher schon. Aber inzwischen ist der Vergleichsdruck anders. Früher schaute man sich an der Schule um: Da gab es zwei, drei Stufenschönheiten und 98 Prozent normal attraktive Leute. Heute kann man sich auf Instagram mit Bikini-Schönheiten vom anderen Ende der Welt vergleichen.
Das Gespräch suchen
Nicht jede Diät oder Gewichtsschwankung ist Ausdruck einer Essstörung. Eltern und sonstige Bezugspersonen sollten dennoch aufmerksam sein und im Zweifelsfall das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen suchen.
Wer sich unsicher fühlt, sollte sich an einen Arzt wenden und über Sorgen und Befürchtungen sprechen.
Die DRK-Kinderklinik, Wellersbergstraße 60, ist unter 0271/2345-0 zu erreichen.
Da wirkt auch die Filterbubble: Ich bekomme verstärkt angezeigt, womit ich mich ohnehin schon befasse?
Auch. Attraktive Menschen posten außerdem mehr Bilder und bekommen mehr Likes, während normal gebaute Mädchen weniger Bilder online stellen. So entsteht eine Verzerrung der Wahrnehmung: Macht man heute das Smartphone oder den Computer an, sieht man jede Menge perfekte Mädchen mit flachem Bauch.
Bei manchen Mädchen entsteht da das Gefühl: Hey, die anderen sehen alle so aus – nur ich nicht. Es gibt mittlerweile ganz bizarre Vorstellungen, was eine normale Teenie-Figur ist. In der Behandlung versuchen wir, das wieder zu objektivieren, eine realistische Sicht zu ermöglichen.
Das allein bewirkt aber in der Regel keine Essstörung?
Nein, da spielen viele Faktoren eine Rolle. Es hat viel damit zu tun, wie ich meinen Selbstwert definiere – und auch mit Leistungsanspruch. Nicht nur äußerlich kann man sich mittlerweile global vergleichen. Viele Jugendliche stellen sich auch die Frage: Was muss ich mit Mitte 20 schon erreicht haben? Mehrere Praktika, Studium, Berufserfahrung und dann noch ein Jahr im Ausland?
Da entsteht Druck. Aber wieso kann der das Auftreten einer Essstörung wie Magersucht begünstigen?
Weil essen auch mit Disziplin und Kontrolle zu tun hat – über den Hunger, über das Bedürfnis nach Genuss. Es entsteht das Gefühl: Wenn ich über viele Dinge in meinem Leben keine Kontrolle habe – wenigstens hier habe ich sie.
Aber nicht alle Menschen mit Essstörungen haben Anorexie. Es gibt auch Bulimie, krankhaftes Übergewicht oder „Binge-Eating“: Essattacken mit Kontrollverlust.
Befriedigung durch Essen hat mit Nähren im Allgemeinen zu tun, mit der Idee „wenn ich einsam bin, tu ich mir etwas Gutes“. Das beobachten wir aber eher bei Menschen, die in ihrem Leben wenig Nährendes erlebt haben und positive Erfahrungen suchen.
„Nährend“ geht in diesem Fall über Essen hinaus und schließt alle Aspekte von Fürsorge und menschlicher Zuwendung ein – gehört das nicht zum Standardprogramm von Familien?
Es gibt nicht nur eine Vereinsamung in der Gesellschaft, sondern auch in Familien. Es scheint, als wachsen mehr Eltern heran, die verunsichert sind, wie sie ihr Kind so erziehen können, dass es positive Bindungen ausbildet. Da muss die Gesellschaft hinschauen.
Macht sich das öffentlich bemerkbar?
Gehen Sie heute mal in ein Wartezimmer: Da sehen sie keine Eltern, die mit ihren Kindern mit Bauklötzen spielen, sondern Mütter mit Smartphones und Vierjährige mit Tablets. Wenn die Eltern aber aufs Smartphone schauen, anstatt sich mit dem Kind zu beschäftigen – wie soll es sich dann von klein auf genährt fühlen? Man kann gemeinsam auf der Couch sitzen und trotzdem einsam sein. Da machen wir uns schon Sorgen.
Viele Eltern kümmern sich also nicht so, wie sie sollten?
Kein Elternteil wacht morgens auf und nimmt sich vor: Heute vernachlässige ich mal mein Kind, indem ich fünf Stunden aufs Smartphone starre. Alle tun das, was sie auf Grundlage ihres Wissens für das Beste halten.
Aber viele Eltern sind selbst gefangen in der virtuellen Welt, und es ist klar, dass sie das ganz selbstverständlich an ihre Kinder weitergeben. Das Thema Medienkompetenz gehört deshalb in ärztliche Beratungsgespräche und in Elternabende an Schulen.
Wie helfen Sie Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen?
Das hängt von den individuellen Problemen ab. Wichtig ist es immer, den Selbstwert zu reflektieren: Wer bin ich, unabhängig von meiner Figur? Welche Talente habe ich? Wir thematisieren auch Gefühle von Kontrollverlust, etwa bei Scheidung der Eltern oder traumatischen Erfahrungen. Und wir helfen den Jugendlichen, ein Bewusstsein für den eigenen Körper zu schaffen, dafür, wieviel Essen und welches Maß an Bewegung gesund sind. Es ist ein vielschichtiger Prozess, weil der Essstörung ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zugrunde liegt.
Wie können Eltern erkennen, ob sich eine Essstörung bei ihrem Nachwuchs entwickelt?
Man sollte erst einmal mitbekommen, wie das eigene Kind isst – am besten durch gemeinsame Mahlzeiten. Dann sollte man auf größere Gewichtsschwankungen in beide Richtungen achten. Wenn ich etwas bemerke, sollte ich mit meinem Kind ins Gespräch kommen und wissen, was es beschäftigt. Und auf das eigene Empfinden vertrauen: Wenn ich als Elternteil das Gefühl bekomme, „mit meinem Kind stimmt etwas nicht“ – dann wird das in der Regel wohl so sein.
Wichtig ist, in diesem Fall nicht lange zu warten, sondern zum Kinderarzt oder zur Kinderärztin zu gehen – die können Entwicklungen gut beurteilen und weiterhelfen.
Macht das manchen Eltern nicht zu schaffen, weil sie sich verantwortlich für das Problem fühlen?
Wichtig ist, dass Eltern sich ganz klar sagen: „Ich habe nicht versagt. Ich habe jeden Tag als Mama oder Papa den besten Job gemacht, den ich konnte.“ Schuldzuweisungen bringen gar nichts. Es geht nicht um Versagen, denn das Problem ist immer multifaktoriell.
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