Siegen.. Depressionen bei Kindern nehmen laut Statistiken zu. Dennoch gibt es wirksame Behandlungsmöglichkeiten, um eine unbeschwerte Kindheit zu gewährleisten.

Ins Klischeebild der unbeschwerten Kindheit passt Depression so gut wie ein Lastwagen ins Nachttischchen. Die Zahlen steigen laut Statistik, aber die Diagnose ist kein Grund zur Trübsal – denn es gibt wirksame Behandlungsmöglichkeiten. Ein Gespräch mit Dr. Debora Nawrath, medizinisch-therapeutische Fachleitung der Psychosomatischen Station (P1) an der DRK-Kinderklinik in Siegen.

Sind heute mehr Kinder und Jugendliche depressiv als früher – oder wird das Problem nur häufiger erkannt?

Debora Nawrath: Die Zahlen steigen auf jeden Fall. 2004 waren deutschlandweit etwa 4000 Kinder und Jugendliche wegen Depressionen in stationärer Behandlung, 2012 mehr als 12 000. An der DRK-Kinderklinik hatten wir 2012 noch vier Fälle stationär, drei Jahre später waren es 15. Zum einen hat sich die Diagnostik verbessert und die Menschen sind sensibler für das Thema geworden. Aber es hat sich auch sonst viel verändert.

Was denn?

Beispielsweise gibt es heute mehr Trennungen von Eltern – und das führt zu weiteren Dingen. Oft geht viel Streit voraus, den die Kinder mitbekommen. Dann gibt es neue Lebenspartner der Eltern. Manche Mütter müssen dann auch mehr arbeiten und haben weniger Zeit. Einen zweiten großen Faktor sehe ich den sozialen Medien. Wir erleben Patienten, die Mobbing ausgesetzt sind: über Facebook, über Whatsapp, anonym.

Ist Mobbing nicht so alt wie die Menschheit?

Vor 20 Jahren war das noch nicht so ein Thema. Im Internet gibt es dafür ganz andere Möglichkeiten, als jemandem etwas direkt ins Gesicht zu sagen. Wir müssen uns darauf einstellen, wenn wir mit den Patienten arbeiten. Wie gehe ich etwa mit verletzenden Facebook-Einträgen um – löschen oder ignorieren? Hier ist es für uns wichtig, mit den Patienten am Selbstkonzept zu arbeiten. Das heißt, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, was ihre persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten, Vorlieben, und Gefühle sind, um in Zukunft mit Mobbing anders umzugehen.

Ist auch Leistungsdruck ein Auslöser? Es heißt oft, dass Burnout immer häufiger schon im Kindesalter auftritt.

Ich sehe das kritisch. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen können mit den Anforderungen, die an sie gestellt werden, gut umgehen. Andere stehen durch volle Terminkalender, Erwartungen durch das soziale Umfeld oder sehr hohen eigenen Anspruch unter einem hohen Druck. Wir stellen Diagnosen nach einem bestimmten System, und klassischen Burnout gibt es da nicht. Wir sprechen von leicht, mittel oder schwer ausgeprägten depressiven Episoden und von Anpassungsstörungen: Von einer Depression, mit der das Kind auf eine schwierige Situation reagiert.

Kann das jeden treffen?

Im Prinzip schon. Aber es gibt eine Resilienz, also psychische Widerstandsfähigkeit. Die Neigung zu Depressionen hat auch eine genetische Komponente – und hat mit der Sozialisation zu tun.

Wie merkt das Umfeld, ob ein Kind nur schlecht drauf ist – oder depressiv?

Das Kind schläft nicht, ist lustlos, zieht sich zurück, die Leistungen werden schlechter, es ist oft traurig. Kindergartenkinder haben keine Lust zu spielen, wirken freudlos oder haben wenig Gestik und Mimik. Jugendliche können auch aggressiv sein. Es müssen aber mehrere Symptome gegeben sein, und das über einen längeren Zeitraum.

Hört sich niederschmetternd an.

Man darf nicht vergessen: 60 bis 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen sagen von sich selbst, sie seien glücklich.

Was tun, wenn ich bei meinem Nachwuchs Symptome beobachte?

Viele gehen zum Kinder- oder Hausarzt. Für den Großteil der Betroffenen folgt eine ambulante Behandlung, vor allem Gesprächstherapien. Dort werden Lösungen erarbeitet, wie die Jungen und Mädchen aus negativen Denkmustern – „Ich kriege nichts hin, ich bin nichts wert“ – herausfinden. Manchmal bietet sich die stationäre Behandlung an: etwa, wenn die Belastung in der Familie durch die Erkrankung des Kindes zu hoch ist. Oder bei Suizidalität.

Und dem depressiven Nachwuchs ein wohlgemeintes „Nun reiß Dich mal zusammen“ auf den Weg zu geben...

... das ist ein ganz schlechter Satz. Es ist sehr wichtig, die Eltern gut aufzuklären. Manche kommen zu uns, und sehen das eigentliche Problem noch nicht. Die sagen dann: „Mein Kind ist faul“ oder „kann nichts“.

Die Depression kann also hinter vielen Symptome stecken?

Ja. Außerdem können andere psychische Erkrankungen, wie Störungen des Sozialverhaltens oder Angststörungen gemeinsam mit Depressionen auftreten, sind komorbid. Elternarbeit ist deshalb ein zentraler Punkt unserer Tätigkeit.

Wie hoch sind die Chancen, die Depression zu überwinden?

Etwa 80 Prozent der Fälle sind gut behandelbar. In therapeutischen Gesprächen reden wir über die Depression, über Gefühle und Erleben. Wir schauen, wo Stärken beim Kind sind, um die Ressourcen zu nutzen und den Selbstwert zu stärken. Wichtig ist auch Aktivierung, darum machen wir für Patienten Pläne, wann sie etwa rausgehen und sich bewegen sollen. Das fällt Patienten oft schwer, darum müssen wir – und die Eltern – das Kind begleiten, vielleicht mit Belohnungen motivieren. Neben der Psychotherapie gibt es auch die Möglichkeit, die Kinder und Jugendlichen medikamentös durch ein antidepressives Medikament zu unterstützen. Und: Je schneller eine Behandlung beginnt, desto besser ist die Prognose.

Die Depression kann zurückkommen?

Ja, aber wir erarbeiten Frühwarnzeichen mit Patienten, damit sie rechtzeitig erkennen, wenn wieder eine depressive Episode beginnt – damit sie zeitig gegensteuern können.