Netphen. Car-Sharing, Co-Working-Spaces, Shuttle: Forscher Andreas Knie erklärt, welche Angebote in Siegen funktionieren können – und welche scheitern.

Seit fast 30 Jahren besitzt Prof. Dr. Andreas Knie kein eigenes Auto mehr. Aufgewachsen in Büschergrund forscht der Wissenschaftler derzeit in Berlin zur Zukunft des Verkehrs. Im Interview erklärt er, wie Car-Sharing in Siegen und den ländlichen Regionen funktionieren würde, träumt von Co-Working-Spaces auf der Wilhelmshöhe und erzählt, wieso wir uns bei der Verkehrswende häufiger irren müssen.

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Herr Knie, vor zwei Jahren haben Sie ein Buch mit dem Titel „Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende“ veröffentlicht. Haben Sie jemals ein Auto geliebt?

Selbstverständlich, meinen ersten Opel Kadett. Ich komme aus Büschergrund bei Freudenberg. Da kam man nicht vorwärts, wenn man nicht ein motorisiertes Individualgerät hatte. Zuerst hatte ich ein Mofa, dann ein Moped und später ein Motorrad. Sofort als ich 18 Jahre alt war, kam dann ein Auto dazu. Wie alle in dem Alter, brauchten wir die Fahrzeuge, um uns aus dem Dorf herausbewegen zu können.

Wie lange haben sie dann noch im Siegerland gelebt?

Ich bin sofort weggezogen, als es möglich war (lacht). Nach dem Abitur bin ich mit 19 Jahren nach Marburg gegangen und habe dort studiert. Da hatte ich schon kein eigenes Auto mehr, sondern wir haben uns einen VW in der WG geteilt. Außer, dass ich hin und wieder nach Büschergrund fahren wollte, war ein Auto für mich nicht mehr notwendig.

Seitdem leben Sie ohne eigenes Auto?

Ich bin 1984 nach Berlin gezogen und hatte dann nochmal einen wunderschönen „Strich-Achter“ (Mercedes-Benz 8, d. Redaktion). Im Jahre 1991 habe ich das Auto aber abgeschafft, weil es irgendwann einen Punkt gab, wo ich keine Lust mehr auf die langen Fahrten und ein eigenes Auto hatte.

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Sie leben immer noch in Berlin. Dort fordern sie eine autofreie Stadt. Im Juli 2019 haben Sie auf einer Veranstaltung der Uni Siegen gesagt: „Es gibt kaum eine Region mit so vielen Autos wie das Siegerland“. Wie kann die Zahl der Fahrzeuge verringert werden?

Eine autofreie Stadt fordere ich nicht, sondern eine privat-autofreie Stadt. Das private Auto steht zu 95 Prozent rum und wenn es fährt, hat es einen Besetzungsgrad von 1,01. Da ist es egal, ob es in Berlin, Siegen oder Freudenberg steht. Das heißt, hier bilden wir eine Mobilitätsreserve, die wir in der Form eigentlich gar nicht brauchen. Ich fahre gerne Auto, heute noch. Das mache ich mit Car-Sharing. Da gebe ich das Auto nach der Fahrt wieder ab. Damit können sich viel mehr Menschen mit einem Auto bewegen, ohne ein eigenes besitzen zu müssen. Dadurch kann man in einer Stadt die Zahl der tatsächlichen Autos ziemlich runterfahren, in Berlin auf ein Drittel des Bestandes.

Und auf dem Land?

In den ländlichen Regionen ist das natürlich völlig anders. Wenn sie in Büschergrund wohnen, dann haben sie keine U-Bahn, keine Straßenbahn vor der Tür und ab und zu kommen die VWS, die aber auch nicht dann, wenn man sie braucht. Das heißt, da brauchen Sie Autos. Aber auch auf dem Land kann man sich Autos teilen. Und zwar ganz schlau mit digitalen Plattformen. Jeder hat ein Handy und gibt seine Fahrwünsche ein, oder der, der regelmäßig von A nach B fährt, sucht nach Mitfahrern. Und schon fahren nicht mehr fünf Menschen mit fünf Autos, sondern mit einem.

Der Mobilitätsforscher

Prof. Dr. Andreas Knie wurde 1960 in Siegen geboren. Von 1980 bis 1986 studierte er Politikwissenschaft an der Universität Marburg und der FU Berlin. Später promovierte und habilitierte er an der TU Berlin unter anderem zu „Wankelmut in der Autoindustrie“.

Seit diesem Jahr ist er Leiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Was entgegnen Sie Pflegekräften, die für ihre Arbeit auf ein Auto angewiesen sind?

Da meine Schwester im Krankenhaus arbeitet, weiß ich sehr wohl, dass man in ganz besonderen Konstellationen weiterhin ein eigenes Auto braucht, auf das man jederzeit zurückgreifen kann. Das gilt für den Schichtdienst, das gilt, wenn man Angehörige pflegen muss. Aber diese Gelegenheiten sind sehr spezifisch, die überwiegenden Fahrten kann man heute anderes organisieren.

Sie schlagen also Car-Sharing-Angebote auch im ländlichen Raum vor?

Auf dem Land ist das Auto der Bus. Das heißt, jedes Auto kann in einer Sekunde von einem Privatauto in einen Bus verwandelt werden. Und dann können Sie andere Leute mitnehmen. Das haben wir früher auch gemacht. Per Autostopp, Mitfahrzentrale oder Zuruf. Das bekommen Sie heute noch viel besser mit digitalen Plattformen hin. Man nennt das Ride-Sharing. Car-Sharing, wie man das kennt mit festen Stationen, wird es auf dem Land nur in Ausnahmefällen geben.

Wenn ich auf andere angewiesen bin, fehlt mir die Flexibilität.

Am Anfang scheint das so, aber in Berlin ist man zum Beispiel viel mehr flexibel, weil hier jederzeit alles geht. Gehen wir aber gedanklich nach Büschergrund und es ist 1 Uhr nachts und Sie wollen jetzt von A nach B und haben kein eigenes Auto, dann müssen Sie natürlich hoffen, dass jemand fährt. Wir glauben aber, dass es funktioniert. Wenn das Prinzip genügend einschlägt, viele Leute unterwegs sind und man noch ein Zubrot für die Mitnahme bekommt, dann hat man Anreize. Dann hat man auch in den ländlichen Regionen mit den Apps in der Tasche mehr Flexibilität.

In Drolshagen wurde der weitgehend autonom fahrende Bus SAM in den Linienbetrieb aufgenommen.
In Drolshagen wurde der weitgehend autonom fahrende Bus SAM in den Linienbetrieb aufgenommen. © WP | Verena Hallermann

Wie sieht das Modell im Alltag aus, zum Beispiel beim Einkaufen? In Drolshagen ist jetzt der autonom fahrende Bus SAM gestartet. Geht so ein Projekt in die richtige Richtung?

Ja. Die Machbarkeitsstudie haben wir in Berlin bereits vor drei Jahren aufgesetzt. Neben den Autos und den digitalen Plattformen, die vor allem junge Leute ansprechen, haben wir immer noch Menschen, die sagen, ich will nachts nicht weg, aber ich will tagsüber noch mobil sein im Dorf, ohne meinen Enkel permanent fragen zu müssen. Für die gibt es jetzt den Shuttle SAM. Und das passiert in Drolshagen auf bestimmten Strecken, einfach auf Bestellung.

In einem Strategiepapier sprechen Sie dabei von „Experimentierräumen“ und „trial and error“. Das heißt, es ist in Ordnung mit Projekten zu scheitern, es ist nur wichtig, dass man sie ausprobiert?

Genau. Der Fortschritt kommt nicht in einer Umlaufmappe zum Mitzeichnen daher, sondern den muss man austesten. Das lerne ich nur mit Versuch und Irrtum und nicht als Verwaltungsanordnung. Wir brauchen neue Angebotsformen und Fahrzeuge, die fahren können, ohne von der Regulierung von Anfang an erstickt zu werden. Da ist Drolshagen ein erster Experimentierraum.

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Gehen wir von dem ländlichen Raum in die Stadt Siegen. Dort gibt es mehr Busse, die regelmäßig fahren. Dort gibt es aber auch ein Platzproblem, weil sich Busse und Berufspendler den geringen Platz auf der Straße teilen müssen und häufig gemeinsam im Stau stehen. Wie kann das gelöst werden?

Indem die Pendler in die Busse steigen. Der Umstieg auf das Bussystem geht nur, wenn ich die berühmte „letzte Meile“ habe. Bleiben wir in Büschergrund. Das Problem des Busses ist, dass er durch die ganzen Dörfer fahren muss. Wenn er das nicht mehr macht, sondern beispielsweise nur von der Wilhelmshöhe fährt, weil er von dort aus schnell über die Autobahn nach Siegen kommt, dann brauche ich kein eigenes Auto mehr. Das zweite Modell ist: muss ich tatsächlich jeden Tag zur Arbeit? Oder habe ich eine Arbeit – gehen wir von der Intensivpflege oder dem Stahlwerk weg – die ich auch von zu Hause oder einem Co-Working-Space erledigen kann? Stellen Sie sich vor, auf der Wilhelmshöhe stehen nicht mehr nur Möbelhäuser, sondern es gibt große Büroräume, in denen Sie arbeiten können. Dann kommen Sie aus Bühl oder Alchen kurz rüber und arbeiten dort. Und wenn der Chef noch anruft oder noch eine Sitzung ist, dann fahren Sie doch in die Stadt rein. Aber das wir jeden Tag zur Arbeit fahren, werden wir in Zukunft nicht mehr haben.

Die Bus-Serie

Wie kommen die Menschen aus Bühl oder Alchen zur Wilhelmshöhe und später wieder nach Hause?

Wenn ich weiß, dass ich mit dem Bus schnell von der Wilhelmshöhe nach Siegen komme, dann gibt es wieder die drei Möglichkeiten: entweder fährt mich der kleine autonome Shuttle, der drei bis vier Kilometer macht aus meinem Dorf dorthin. Oder ich habe eine digitale Plattform, wo ich weiß, dass da einer auf mich wartet und mitnimmt oder ich habe dann doch noch mein eigenes Auto geparkt. Aber das steht dann auch nur acht Stunden rum.

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Halten Sie eine autofreie Stadt Siegen für möglich?

Autofrei wird es nicht. Aber deutlich reduzierter kann es gehen. Darüber sollte es auch in meinen Vorträgen gehen: Warum wollen wir 125 Jahre Bus feiern? Doch nicht nur wegen der Historie, sondern weil wir uns Gedanken über die Zukunft machen wollen. Die Zukunft ist nicht, dass jeder ein, respektive zwei bis drei Fahrzeuge hat und die mehrheitlich auf öffentlichen Grund abstellt. Deswegen müssen wir uns neue Dinge überlegen. Die damaligen Akteure waren auch Pioniere und haben sich gegen Widerstände durchsetzen müssen. Wichtig ist, dass wir funktionsfähig und flexibel bleiben, neue Techniken nutzen und dabei auch das Klima schonen. Damals war es der motorisierte Omnibus, heute ist es die digitale Plattform.

Muss die Politik auch andere Wege gehen und Verbote aussprechen?

Der Verkehr ist voller Verbote und Gebote. Ich würde gerne ohne Helm fahren, ich würde gerne auf der anderen Fahrbahn fahren, ich würde so gerne Schlangenlinien fahren. Alles nicht erlaubt. Es geht um Anreize. Systeme wie in Drolshagen müssen richtig gefördert werden, das Abstellen von Autos im öffentlichen Straßenraum darf nicht mehr erlaubt sein, oder nur noch für Fahrzeuge, die mehrere Leute nutzen. Und diese Anreize müssen jetzt entwickelt werden, aber da sind wir noch weit von entfernt.

Wie wird die Verkehrswende in Zukunft aussehen?

In der Stadt werden wir die Menge der Autos auf ein Drittel des jetzigen Bestandes reduzieren und auf dem Dorf können wir es mit vernünftigen digitalen Möglichkeiten, wie dem Teilen von Autos und Sitzplätzen, auf die Hälfte schaffen. Im 19. Jahrhundert fand die Erschließung des Raumes mit der Schiene statt, im 20. Jahrhundert mit der Straße und im 21. Jahrhundert sind es die digitalen Plattformen.

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