Hilchenbach. Viele Hilchenbacher sind zur Gedenkfeier auf den Marktplatz gekommen – 77 Jahre, nachdem die letzten jüdischen Bürger deportiert wurden.
Da war der Metzger und Viehhändler Joseph Holländer. Da war Karl Schäfer, der Schuh- und Bekleidungshändler, in dessen Haus in der Gerbergasse die jüdische Gemeinde sich zum Gebet versammelte. Da war Herz Stern, auch ein Metzger und Viehhändler. Ihre Frauen, ihre Kinder. Und Willi Holländer, der Kaufmann, dem sie das Geschäft wegnahmen und der dann den Lebensunterhalt für seine Familie auf dem Bau verdiente. Seine Ehefrau Gerti und ihr jüngster Sohn Lothar waren die letzten Juden, die aus Hilchenbach deportiert wurden. Am 28. Februar 1943.
„Nach Auschwitz und dort ermordet“, steht auf dem Transparent, das der Geschichtskurs der Keppeler 9 c zur Erinnerung für diese Familie gestaltet hat. Und ähnlich, nur mit anderen Daten und anderen Orten, enden auch die Lebensläufe der anderen Familien. Roswitha Womelsdorf trägt ihre Namen vor und auch die der anderen, die die Stadt und das Land noch lebend verlassen konnten. „Bürger, die hier einmal ihre Heimat hatten.“ Ihr Ehemann Horst Womelsdorf spricht es in seinem Gebet deutlich aus: „Wir bekennen uns schuldig.“
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Der Junge
Olaf Kemper, der stellvertretende Bürgermeister, eröffnet die Gedenkfeier an diesem Jahrestag. Und deutet auf den kleinen Noah, der neben ihm steht. „Er ist genauso alt.“ Neun Jahre, und das ganze Leben vor sich. Wie Lothar. Der in diesem Jahr 87 würde. Wenn ihm das Leben nicht genommen worden wäre. „Es gab auch Menschen, die den Juden beistanden“, sagt Olaf Kemper, „aber es gab auch viel mehr, die wegschauten.“ „Wegsehen ist eine Form des Mitmachens“, sagt Olaf Kemper, „und es gibt heute wieder viele, die wegsehen.“ Und viele, die gleichgültig werden und sich daran gewöhnen. „Die Folgen sind aus unserer Geschichte bekannt.“
Der Senior
Der Platz vor dem Gedenkstein und dem Brunnen auf dem oberen Marktplatz ist gut gefüllt. Es sind viele junge Menschen, die erstmals zu dieser Gedenkfeier kommen. Horst Womelsdorf ist an diesem 28. Februar, der vor 77 Jahren ein Sonntag war, der älteste, der das Wort ergreift. Er beginnt mit „Höre Israel“, dem Ruf nachempfunden, der eine Straßenecke weiter im Haus von Karl Schäfer ertönte. Womelsdorf war 1979 zum ersten Mal in Auschwitz. Dass er eine jüdische Urgroßmutter hatte, wusste der 1950 Geborene von Kind an. Er hörte gut zu, als sein Nachbar und Freund Ernst Moll erzählte, wie sein Vater Karl Moll den Juden half, ihren Koffer zum Bahnhof zu tragen: „Dafür wollten ihn Hilchenbacher Bürger aufhängen.“ Horst und Roswitha Womelsdorf sind oft nach Israel gereist, sind Überlebenden und ihren Nachkommen begegnet.
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Die Jungen
Julian Spindler und Ronyar Bakar sind auch in der 9 c in Keppel. Sie lesen Gedichte von Halia Birenbaum vor, die vier Jahre älter ist als Lothar Holländer. Sie hat Auschwitz überlebt und ist seit 1947 in Israel: „Mein Leben begann am Ende und ich kehrte zum Anfang zurück. Ich bin wieder auferstanden, nichts war umsonst.“ Niklas Leismann und Mourad Hayat aus der 10 der Realschule rezitieren Rainer Tiemann: „Es kostet doch kein Geld, wenn Menschen würden Menschen lieben. Und besser wär die Welt.“ Jost Hoffmann aus dem Geschichtskurs der 9 c spricht über den Anschlag auf die Synagoge in Halle: „Wer in Deutschland Juden angreift, greift uns alle an.“
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Lukas Klimke ist Schüler der Q 1 in Keppel. Seine Gemeinde St. Augustinus Keppel hat ihn ausgesucht, eine Andacht zu halten. Er spricht den Kaddisch und das Vaterunser, er spricht von Jesus, dem Juden aus Nazareth. Er ruft dazu auf, „in aller Entschiedenheit gegen Hass und Unmenschlichkeit einzutreten.“ Und dazu, es nicht beim unverbindlichen Gedenken zu belassen, sondern „jeden noch so kleinen Keim zu ersticken, an dem Unmenschlichkeit entsteht.“ Denn, so denkt Lukas Klimke, „das sind wir denen schuldig, derer wir hier gedenken.“
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Die Freunde
Damit ist er an diesem Nachmittag nicht allein. Kränze werden niedergelegt, nicht nur mit den Schleifen in den Farben der Stadt. Auch vier Frauen des Atatürkvereins Siegerland sind mit einem Gebinde gekommen: Nilgün Atlihan, Feryal Alpagut, Gönül Sirtlan und Ucar Taschkiran. Rosen werden am Gedenkstein abgelegt. Und die Steinchen mit den Namen der Menschen, die in ihrer Stadt keinen Schutz fanden. Lea-Deborah Kiel singt ein Ave Maria. Das Stadtorchester spielt „Friends for Live“.
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