Siegen. Museum für Gegenwartskunst Siegen widmet die erste Ausstellung unter der künstlerischen Leitung von Thomas Thiel dem Thema „Unsere Gegenwart“.
Der Name des Hauses möge den aktuellen Ausstellungstitel nahelegen, sagt Thomas Thiel, Direktor des Museums für Gegenwartskunst (MGK) Siegen. Er habe „Unsere Gegenwart“ aber aus deutlich weitreichenderen Gründen für die erste Ausstellung unter seiner künstlerischen Leitung gewählt. Er wolle „mit einer Standortfrage beginnen“, sagt Thomas Thiel. „Welche Rolle spielt Kunst in der Gegenwart? Wie spiegeln sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in der Kunst?“
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Parallel dazu hat er gemeinsam mit Kuratorin Ines Rüttinger die bestehenden Sammlungen im MGK – die Sammlung Lambrecht-Schadeberg mit Werken der Rubenspreisträger und die Sammlung Gegenwartskunst – nicht nur neu sortiert und arrangiert, sondern dies auch noch mit dem Ziel getan, damit an alle Ausstellungen des Jahres 2020 anzuknüpfen.
Lesung am Samstag
Die Ausstellung „Unsere Gegenwart“ im Museum für Gegenwartskunst, Unteres Schloss 1, eröffnet am Freitag, 14. Februar, um 19 Uhr. Zu sehen ist sie bis zum 1. Juni.
Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. Erster Termin ist am Samstag, 15. Februar, 15 Uhr, eine performative Lesung von Hanne Lippard zu ihrer Soundinstallation „Frames“.
Im Siegener Museum wochenlang umgebaut
Viel Arbeit also. Das Museum ist nicht umsonst seit 20. Januar geschlossen und öffnet erst wieder mit der neuen Ausstellung am Freitag, „wir haben das gesamte Haus umgehängt und umgebaut“, sagt Thomas Thiel. Die Werke der zehn Künstler und Künstlergruppen, die der neue Chef für „Unsere Gegenwart“ ins zweite Obergeschoss geholt hat, funktionieren dabei nicht alle ohne theoretischen Hintergrund – der allerdings im Begleitmaterial zur Ausstellung geliefert wird.
Die Positionen sollen „Gegenwart erfahrbar machen“, sagt Thomas Thiel. Die Themen seien sehr unterschiedlich, es gehe um Politik, Körperlichkeit, Technologie. Zugänglich sind vor allem die Arbeiten zum Körperthema, etwa von Frida Orupabo. Sie nimmt Fotos schwarzer Menschen als Ausgangspunkt, ursprünglich aus Familienalben, dann aus Internetdatenbanken, zerlegt die Körper und Gesichter und setzt daraus mal mehr, mal weniger verzerrte Figuren zusammen. Es sind keine gequälten Gestalten, es sind selbstbewusst wirkende Hybrid-Individuen, gesampelt aus Aufnahmen aus verschiedenen Zeiten, was die historische Einordnung schwer bis unmöglich macht. Es reflektiert aber den westlichen Blick auf schwarze Menschen; denn, wie Kuratorin Ines Rüttinger anmerkt, hätten die historischen Bilder in Datenbanken in diesem Kontext meist einen kolonialen Hintergrund.
Vom Aktuellen in die Vergangenheit gedacht
Die Linie, die sich aus den neueren Arbeiten in eine jeweilige Vergangenheit ziehen lässt, ist Teil des Ausstellungskonzepts, erläutert Thomas Thiel. Damit werden auch die Verbindungen zu den Werken der MGK-Sammlungen deutlich; im Fall von Frida Orupabo zum Beispiel zu den deformierten Körperbildern einer Maria Lassnig und den ungeschönten Darstellungen eines Lucian Freud. Die Richtung ist allerdings eine umgekehrte. Es soll nicht darum gehen, zu zeigen, was mal war und was dann wurde – sondern was derzeit ist und was es zuvor schon gab. „Es ist aus der Aktualität gedacht, von den aktuellen Themen aus“, sagt Thomas Thiel. „Es geht von heute in die Vergangenheit.“ Und unter dieser Maßgabe nehme die aktuelle Ausstellung „die Sammlung mit auf“.
Mit Körper- und Schönheitsidealen befasst sich die raumfüllende Installation „Spa & Beauty“ der südkoreanischen Künstlerin Geumhyung Jeong. In einer Mischung aus Schönheitsfarm, surrealistischer Gruselvision und Plastikalbtraum sind grotesk proportionierte Puppenkörper und mit lächerlichen Haartransplantaten versehene Puppenköpfe ausgestellt. An den Wänden hängt Werbung für Schönheitsprodukte, in Vitrinentischen liegen Bürsten und andere Pflegeinstrumente. Das Verstörende ist, dass vergangener und zeitgenössischer Körperkult in diesem völlig grotesk überzogenen Setting erschreckend vertraut und – im übertragenen Sinne – natürlich wirken. Das Streben nach Schönheit ist bis zur völligen Überwindung jeglicher Natürlichkeit pervertiert. Das ist zwar bizarr, aber irgendwie auch Alltag.
Politik im Posterformat
Schwieriger, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, fällt der Zugang zu den politischen Arbeiten aus. In seiner poppigen Präsenz macht es dabei „Where are you going?“ von Eric Baudelaire dem Betrachter noch relativ einfach – auch deshalb, weil das Thema gegenwärtig sehr… nun: gegenwärtig ist. Baudelaire schrieb die Mitglieder des britischen Oberhauses und des Unterhauses an und fragte nach ihrer Haltung zum Brexit. 55 haben bisher geantwortet, diese Briefe hängen als bunte, großformatige Poster gedruckt in einem Raum an den Wänden. Vom handschriftlichen Zweizeiler bis zur ausführlichen getippten Stellungnahme ist alles dabei. Jeder Brief wirkt so wie eine persönliche Visitenkarte, die weit mehr von dem Menschen preisgibt, als es die offiziellen Briefköpfe tun.
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Die durchdringende Erfassung einer solchen Arbeit erfordert selbstverständlich Hintergrundwissen und vor allem Zeit. Ähnlich ist beispielsweise mit den Videos des Kollektivs „Forensic Oceanography/Forensic Architecture“, die analytisch Konflikte im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen im Mittelmeer aufarbeiten. Die Notwendigkeit zu einer solch tiefen Auseinandersetzung ist nun weder bei Videokunst speziell noch bei Gegenwartskunst allgemein ungewöhnlich, lässt „Unsere Gegenwart“ aber beim ersten Rundgang teilweise etwas sperrig erscheinen. Andererseits: Die Gegenwart ist ja auch sperrig.
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