Weidenau. Ein Drittel ihres Schultages gestalten die Gymnasiasten am Weidenauer FJM selbst: Sie bestimmen, wann sie was lernen.

Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium. Zwanzig nach 11. Bei Frau Stein stehen die PCs, sie weiß in Bio und Englisch gut Bescheid. Wer das nicht weiß: Es steht auf der gelben Karte, die die Lehrerin gerade an den Türrahmen von Raum A 210 hängt. Die drei Jungs, die über den Flur streifen, wollen da nicht hin. Woanders ist die Tür schon zu, alle Plätze besetzt. „Dann gehen wir eben in den Raum der Stille.“ Das ist die Bibliothek. Hier darf allenfalls geflüstert werden. Für die Geschichte-Hausaufgaben genau richtig. Denn das ist der Plan.

Wozu Dalton gut sein kann

Und das ist der Deal: Den Unterricht nach Stundenplan gibt’s hier von 8.40 bis 11.20 und von 12.25 bis 13.25 Uhr. Davor und dazwischen macht jeder seins: Dalton-Zeit. Dalton ist übrigens eine Stadt in Massachusetts, in der diese pädagogische Methode 1917 erstmals angewandt wurde. Bis zu 500 Schülerinnen und Schüler haben die Wahl, mit wem und bei wem sie lernen, Aufgaben erledigen oder um Rat fragen wollen. Oder sich, wie Dr. Arno Semrau (Deutsch und Musik) es formuliert, vor der Deutscharbeit über Eichendorff am Freitag noch „eine Vitaminspritze geben lassen“. Bei ihm oder seinen Fachkollegen, wer auch immer sein gelbes Schild heraushängt. „Wir kriegen schnell mit, wer zu dem Eichendorff-Gedicht nur heiße Luft produziert.“

Seit Beginn dieses Schuljahres ist das FJM eines der wenigen Dalton-Gymnasien im Land, aber schon das zweite nach dem Neunkirchener Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium im Kreis. Es geht, letzten Endes, um individuelle Förderung: Die, die hinterherhängen, sollen aufholen können, und die Überflieger sollen eine Gelegenheit finden, noch eine Schippe draufzulegen. Ein Drittel der Unterrichtszeit jedes Fachs steht dafür zur Verfügung.

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Mit dieser „ambitionierten Umstellung des Unterrichts“, sagt Schulleiter Rüdiger Käuser, reagiere die Schule „auf den deutlich sichtbaren Wandel der Schülerschaft“. Der sich zwangsläufig daraus ergibt, dass es in der Stadt außer einer Haupt- und zwei Realschulen nur noch Gesamtschulen mit immer noch zu geringer Kapazität gibt. Und eben Gymnasien.

Wie man sich seinen Tag organisiert

Bei Dr. Helga Nünninghoff (Mathe, Musik, Philosophie) in A 301 sind keine Plätze mehr frei. Joel aus der 8 macht Religion, Finn neben ihm Französisch. „Eigentlich hatten wir Mathe vor“, sagt Finn. Dann wären die beiden hier richtig. Hinten machen Sumeja und Mavie Mathe. „Wir können uns gegenseitig unterstützen“, sagt Mavie. Klar, vor einer Arbeit macht man Dalton am besten bei einem Fachlehrer, sagen sie. Ansonsten aber wählt Sumeja das Fach, das am selben Tag sowieso auf dem Stundenplan dran ist: Dann muss sie keine zusätzlichen Bücher schleppen.

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Die Dalton-Strategien der Schüler sind unterschiedlich. Dass sie sich auch daran orientieren, was Freundinnen und Freunde machen, ist gewollt: Sie sollen sich durchaus gegenseitig unterstützen, bevor sie die Hilfe des Lehrers suchen. Oder die Älteren helfen den Jungen. Und manchmal sogar umgekehrt. Sympathien für Lehrer spielen auch eine Rolle. „Ich habe in der 5 so einen kleinen Fanclub“, berichtet Rüdiger Käuser. „Und ich habe immer die 9er Mädels“, verrät sein Stellvertreter Dr. Dirk Köster, „obwohl ich die die ganze Zeit zum Arbeiten animiere.“ Andersherum läuft das allerdings auch. Unbeliebte Lehrer wissen, dass sie unbeliebt sind, „die Schüler sagen Ihnen das knallhart“, erzählt Rüdiger Käuser.

Was man über Rosa und Orange wissen sollte

Im Schnitt, je nach Woche und Stundenplan, verteilen sich um die 400 Schüler auf bis zu 16 Stationen. Der Plan dazu muss gelesen werden können, die Buchstabenkürzel stehen für Lehrernamen. Orange unterlegt sind Räume für Gruppenarbeit, „RDS“ ist der Raum der Stille, also die Bibliothek, „RDAS“ ist der Raum der absoluten Stille, wo überhaupt kein Ton mehr erlaubt ist. Rosa sind die Räume der Musik. Da darf man sich Musik auf die Ohren geben. „Eine Anregung aus der Schülerschaft“, berichtet Dr. Dirk Köster, „das war umstritten, aber wir haben uns darauf eingelassen.“

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In der Bibliothek bei Conny Reiß (Mathe, Chemie, Informatik) ein Mädchentisch aus der 6 b in der üblichen Konstellation: Grace macht Geschichte, Henrike Physik, Indira mit Grace Geschichte. „Und gleich mache ich noch Physik.“ Alle haben hier einen Hefter mit den „Lern- und Themenplänen“ für die nächsten Woche bei sich. Die 9 weiß jetzt schon, dass sie bis zum 12. März für Deutsch „Tschick“ gelesen haben muss und dass irgendwann Mitte Februar in Englisch ein großer Vokabeltest ansteht.

Für jedes Fach und jede Woche sind Aufgaben gestellt. Sie sollten sie machen, entweder jetzt oder zu Hause. Denn das Feedback schreiben die Lehrer in den FJM-Planer, den jeder Schüler hat. Da kommen auch die Stempel mit dem Kopf vom Fürsten rein – Anwesenheitsnachweis für jede Dalton-Stunde. Denn Dalton-Flex, wo Arbeit in einer Freistunde gegen morgens ausschlafen getauscht werden kann, gibt es erst in der Oberstufe.

Wie Lehrer und Schüler reagieren

Und – geht das alles gut? Gremien wurden eingerichtet, Eltern und Schüler beteiligt. Man justiert, zum Beispiel mit Förder- und Fordermodulen: 120 Minuten binomische Formeln sind gerade im Angebot, 15 Plätze, zu vergeben über den Schul-Doodle. Geplant sind, in Zusammenarbeit mit der Uni, Exzellenz-Kurse. Man sammelt Rückmeldungen. Man gewöhnt sich. „Das ist ein Lernprozess für alle Beteiligten“, sagt Dr. Dirk Köster, auch für die Lehrer: „Dalton hat was mit Abgeben zu tun.“ Und natürlich hat Dalton Grenzen. „Wer auf Schule keinen Bock hat, den gewinne ich auch mit Dalton nicht“, stellt Rüdiger Käuser fest.

Alleinstellungsmerkmal

Schulleiter Rüdiger Käuser verschweigt ein Motiv für die Umstellung nicht: „Dalton ist ein Alleinstellungsmerkmal für diese Schule.“ Die sich von den drei anderen städtischen Gymnasien und dem vom Kirchenkreis getragenen Evau unterscheiden will.

Dr. Arno Semrau hat auf die Frage, „was wir bieten und die anderen nicht“, noch eine andere Antwort: die immerhin vier Musikprofile in der 5: neben dem klassischen Fach Kurse für Streicher, Bläser und Gesang. „Das finden Sie sonst nirgendwo in Siegen.“

Vorher, berichtet der Schulleiter, habe es eine regelrechte Protestwelle in der Mittelstufe gegeben. „Die Kinder haben geglaubt, sie müssten sich jetzt alles selbst beibringen.“ Womöglich kam aber hier der Druck auch von zu Hause. Tatsächlich sind drei Mädchen wegen der Dalton-Einführung an eine andere Schule gewechselt. Für Dr. Arno Semrau aber steht hinter Dalton kein Fragezeichen mehr: „Das beste System, das ich auf dem Markt kenne.“

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Was man besser nicht fragt

Drei Jungs aus der 7 c schmökern in der Bibliothek in einer Deutsch-Lektüre. Ihr Tagewerk ist offensichtlich getan, es geht auf zwanzig nach 12 zu. Alles erledigt? „Wir schaffen das schon hier“, beruhigt Yunus. Und dieses ganze Dalton-Planen ist nicht zu kompliziert? Agiri macht einen Hauch von Empörung hörbar: „Wir sind doch hier schließlich ein Gymnasium.“

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