Weidenau. . Von diesem Schuljahr an ist alles anders am FJM: Eine Stunde ist keine Stunde mehr, den Plan haben nicht mehr nur allein die Lehrer — und um 13.30 Uhr ist, meistens, Schluss.

Die 5. Stunde ist am Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium immer gleich. „LZS“ steht im Planer jedes Schülers bis zur 10, der Einführungsphase der Oberstufe. „LZS“ heißt „Lernzeitstunde“. Jeden Tag. Davor und danach ist alles anders. Anders als an den meisten anderen Schulen. Noch nicht einmal die Stunde ist eine Stunde. Und eigentlich gleicht auch keine Lernzeit der anderen – jede und jeder bestimmt jeden Tag neu, was er oder sie mit wem und bei wem lernt. „Auf einmal hat sich bei uns alles geändert“, sagt Dr. Dirk Köster, der stellvertretende Schulleiter. Was aus Sicht von Dr. Jörg Siewert, Leiter des „Siegener Netzwerks Schulentwicklung“, alles andere als ein Fehler ist: „Das war ein echt großer Wurf.“

Manche lernen für sich allein, manche tauschen sich in der Gruppe aus.
Manche lernen für sich allein, manche tauschen sich in der Gruppe aus. © Steffen Schwab

11.25 Uhr. Der Betrieb auf den Fluren legt sich schnell. In allerkürzester Zeit sind alle in einem Klassenraum verschwunden. Alle Türen waren offen, kein Lehrer hat die rote Karte „Leider schon voll“ an die Klinke gehängt. Nur eine Clique von fünf Jungs ist noch auf der Suche. „Ist das hier der Raum der Stille?“, fragt der, den sie vorschicken. Die Lehrerin nickt, die Jungs machen kehrt. Das ist heute nichts für sie. Viel Zeit haben sie nicht mehr, einen von um die 25 Lernorten auszuwählen. Gleich kommt die „Fege-Aufsicht“. Die die Unschlüssigen buchstäblich in die Lernzeit hineinfegt. Auch so eine FJM-Erfindung, die sich bald nach dem Start des neuen Unterrichtstakts in diesem Schuljahr als erforderlich erwies.
Der Lehrer: „Wir haben einen Nachholbedarf an individueller Förderung“, sagt Dr. Dirk Köster, „den haben im Prinzip alle Gymnasien.“ Jedes Fach hat etwas von seiner Unterrichtszeit abgegeben. Der wird für die Lernzeit gewonnen, über die die Schüler selbst bestimmen. Fast: Denn für jedes Fach und für jede Woche sind in dieser Stunde Aufgaben zu erledigen, nach denen spätestens beim nächsten Test gefragt wird. „Die müssen richtig planen.“

11.40 Uhr. Cornelia Stein bietet eine Lernzeitstunde im Bio-Raum an. Siebtklässler arbeiten sich an der Papierchromatographie ab, ein EFler brütet konzentriert über einem englischen Text. Dass Cornelia Stein Englisch und Bio unterrichtet, wissen die, die zu ihr kommen. Andere sind aber auch nur da, weil ihre Freunde und Freundinnen hier mit ihnen lernen. Natürlich kommt es auch vor, dass die „eigenen“ Schüler in besonders großer Zahl hereinschneien: „Besonders, wenn eine Arbeit ansteht“, sagt Cornelia Stein. Aber wichtig ist das eigentlich nicht.

Die beiden haben sich in dieser Lernzeitstunde für Chemie entschieden: Sie machen den Versuch zur Papierchromatographie.
Die beiden haben sich in dieser Lernzeitstunde für Chemie entschieden: Sie machen den Versuch zur Papierchromatographie. © Steffen Schwab

Der Lehrer: „Jeder lernt so, wie er am besten lernen kann“, sagt Dr. Dirk Köster. Und Selbstverantwortung lernen sie alle gleich dazu. Auch die, um die sich Eltern nicht so sehr kümmern können und die ihr Leben sowieso ziemlich früh selbst in die Hand nehmen müssen.
Der Wissenschaftler: Die Eltern sind, neben den Lehrern und den Schülern, eine wichtige Gruppe für die Auswertung, wie „das Neue am Fürst“ sich bewährt. Die ersten Interviews sind geführt, die Fragebögen werden vorbereitet. Am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Neunkirchen, wo es die Lernzeit vorher schon gab, haben sie daraufhin die Smileys abgeschafft, die am Ende jeder LZS in den Planer gestempelt werden: „Die haben gesagt, das bringt nichts“, berichtet Dr. Jörg Siewert, der Leiter von SiNet.

12.00 Uhr. Jetzt sind es noch anderthalb Stunden. Dann sind, seit Schulbeginn um 7.40 Uhr, 300 Minuten voll, zuzüglich 50 Minuten Pause. Die 6a hat bis zur Lernzeit 30 Minuten Musik, 60 Minuten Kunst, 30 Minuten Englisch und 60 Minuten Religion hinter sich, danach kommen noch 60 Minuten Physik. Die 9c hatte je 90 Minuten Mathe und Wahlpflichtunterricht, eine volle Stunde Religion steht noch an.
Der Wissenschaftler: „Ich war echt überrascht“, sagt Dr. Jörg Siewert. Darüber, dass die FJMler seinen Vortrag über die Unterrichtstaktung, den er beim Pädagogischen Tag gehalten hat, so direkt umgesetzt haben. 60 statt 45 Minuten machen schon viele, um den Unterricht freier gestalten zu können Aber 30? Das ist die Alternative für die „kleinen“ Fächer, die ihre Schüler sonst nur wechselnd ein oder zwei Mal in der Woche zu sehen bekommen. Und für die Sprachen, wo es aufs häufige Üben ankommt.

12.15 Uhr. Die Lernzeit geht dem Ende entgegen, gearbeitet wird jetzt höchst konzentriert, an einem Tisch die Sechstklässler mit Philosophie-Übungen, direkt daneben die Mädchen mit den „Découvertes“ für Französisch. Nächste Woche kommt in der EF in Englisch übrigens „How hard is it to pay attention?“ dran. Die Schülerinnen und Schüler haben für alles einen Plan – sogar den ihrer Fachlehrer. Nur manche haben Pech. Sie sammeln sich im „KP“-Raum. Das steht für „Kein Plan“. Wer den Planer nicht dabei hat und somit auch nicht weiß, was der Auftrag für diese Woche ist, wird hier versorgt. Aufgabenmappen liegen auf der Fensterbank aus. Eine entscheidet sich für Englisch, eine sucht Mathe für die 9. Ein halbes Dutzend von insgesamt um die 500 sammelt sich heute hier.
Der Schulleiter: Oberstudiendirektor Rüdiger Käuser hat noch mehr Ideen für die Lernzeit. Ein „Forderraum“ wäre denkbar, für die Hochbegabten. Die „echten Überflieger“, wie Käuser sie nennt.

12.25 Uhr. An ein paar Tischen in der Mensa sitzen Schülergruppen aus der Oberstufe – und lernen. Gegessen wird hier nicht mehr so viel. Um 13.30 Uhr ist Unterrichtsschluss, erst in der Oberstufe steht Nachmittagsunterricht auf dem Plan. Einige bleiben trotzdem über Mittag. Es gibt ja noch AGen und so. Wo Schule wirklich nur noch Spaß macht.
Der Schulleiter: Veränderung war fällig, findet Rüdiger Käuser. „Wenn wir uns nicht bewegen, bewegen sich andere.“

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Stichworte

Planer: Ohne den „FJM-Planer“ fürs ganze Schuljahr, ein 134 Seiten dickes Spiralbuch, geht gar nichts. Er ist Stundenplan, Aufgabenheft und Terminkalender zugleich, Schulordnung und Antworten auf alle wichtigen Fragen zum Schulalltag sind abgedruckt. Es gibt Raum für Vermerke über fehlende Hausaufgaben (40), Mitteilungen an die Eltern (12), Entschuldigungen (30).

© Steffen Schwab

Siegener Netzwerk Schulentwicklung: Eine 2015 gegründete Arbeitsstelle an der Siegener Uni, die Partnerschulen zu festgelegten Themen vernetzt und berät.

Selbstverantwortung: Die Lehrer machen spannende Beobachtungen. Gruppen, die sich für feste Wochentage zur Lernzeit verabreden. Sechstklässler, die Achtklässlern in Mathe helfen. Schüler, die unbedingt beim Physiklehrer Englisch machen wollen – oder die gar keinen Lehrer zum Lernen brauchen.

Dietrich Bonhoeffer-Gymnasium: Eine der weiteren Partnerschulen in SiNet. Außerdem gehören dazu die Bertha-von-Suttner-Gesamtschule, die Geschwister-Scholl-Schule (Realschule) und die Glück-Auf-Schule (Grundschule).

Smileys: Die Klassenlehrer registrieren anhand der Stempel im Planer schnell, wo es Probleme gibt. „Darum können wir uns jetzt individuell kümmern“, sagt Dr. Dirk Köster. Dass in der frei gestalteten Lernzeit Schüler den Faden verlieren, mag ein Risiko sein, räumt der Studiendirektor ein. Aber das bestehe im Klassenunterrricht seit eh und je: „Wenn ich ein Thema nicht verstehe, sitze ich es aus.“

Kein Plan: „Das ist ein Thema – darüber haben die Eltern viel gesprochen“, sagt Dr. Jörg Siewert von SiNet. Mangels Planer bekommen die Schüler am Ende der Stunde einen roten Zettel in die Hand gedrückt, der keine rote Karte sein soll: die „Rückmeldung zum Arbeits- und Sozialverhalten“ für den Klassenlehrer.

Hochbegabte: Die Schülerschaft am FJM hat ein breites Spektrum an unterschiedlichen Begabungen. Am anderen Ende gibt es auch die mit Defiziten in der deutschen Sprache. „Das hat nichts mit Flüchtlingen zu tun“, betont Schulleiter Rüdiger Käuser. 30 Prozent beträgt der Anteil der Migranten – nicht alle sind schlechter in Deutsch als die Einheimischen.