Weidenau. Im Projekt „Verrückt? Na und!“ sprechen Menschen vor Siegerländer Schulklassen offen über ihre psychischen Erkrankungen. Ziel: Sensibilisieren.

Atemnot. Wackelige Knie. „Und man zittert entsetzlich. In dem Moment denkt man, man überlebt es nicht.“ Marion Schuh beschreibt den Schülerinnen und Schülern einer achten Klasse am Evangelischen Gymnasium, was während einer Panikattacke passiert. „Aber das kann man ganz schlecht jemandem erklären, der das nicht kennt: Diese Angst ohne konkreten Grund.“

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Marion Schuh ist innerhalb des Projekts „Verrückt? Na und!“ am Evau zu Gast. Das Konzept hat der Verein „Irrsinnig-Menschlich“ aus Leipzig entwickelt, die 59-Jährige engagiert sich in der Regionalgruppe Siegen-Wittgenstein, Träger vor Ort ist die Reselve gGmbH. Für die Klassenbesuche, bei denen Kinder und Jugendliche für das Thema psychische Krankheiten sensibilisiert werden und ein realistisches Bild davon bekommen sollen, ist jeweils ein kompletter Schultag vorgesehen. Ein zentrales Element ist, dass Betroffene über ihre Erkrankungen berichteten, dass sie den jungen Menschen aus erster Hand einen Eindruck vermitteln. Und dass sie bei dieser Gelegenheit mit Vorurteilen aufräumen, denen sich psychisch Erkrankte ausgesetzt sehen.

Expertin aus persönlicher Erfahrung

„Viele meinen: Wenn jemand psychisch krank ist, sieht man ihm das an“, gibt Marion Schuh ein Beispiel. Das ist schon deshalb widerlegt, weil ihr an diesem Vormittag niemand etwas angesehen hat. Der Projekttag ist in Abschnitte gegliedert, erst generelle Informationen, dann Gruppenarbeiten zu verschiedenen Fragestellungen. Marion Schuh ist die ganze Zeit dabei, führt zusammen mit Sebastian Hamers von der Reselve durch den Vormittag. Im letzten Teil ergreift sie das Wort und gibt sich als Expertin aus persönlicher Erfahrung zu erkennen: „Ich leide seit 1994 an Angstzuständen und Panikattacken.“

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Mit Schwindelgefühlen habe es angefangen, sagt die dreifache Mutter. „Ich dachte erst, ich bin erkältet, es sei etwas Körperliches.“ Das war es aber nicht. Mit dem Thema psychische Erkrankungen „waren viele Ärzte zur damaligen Zeit noch überfordert“. Ein Arzt „kam mal rein und sagte: ,Sie kämpfen gegen Angstzustände? Wie geht das denn?’“ Und Therapeuten habe es noch kaum gegeben, „und wenn, dann wartete man ewig auf einen Termin“.

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Nach vielen Jahren kamen die Symptome wieder

Sie habe nicht einmal mehr Auto fahren können. Ihre Mutter zog bei der Familie ein, ihr Mann war arbeiten, „ich konnte nicht alleine sein“. Nach einem Klinikaufenthalt und einigen Monaten ging es besser, „ich konnte wieder normal leben, arbeiten, mich um die Kinder kümmern.“ 2011 kehrten die Panikattacken zurück, nach einem Umzug, Stress im Job als Fachkraft bei einem ambulanten Pflegedienst und einer Belastungssituation in der Familie. „Das war schlimm“, sagt Marion Schuh. „Weil ich dachte, es kommt nicht wieder.“ Nach weiteren Klinikaufenthalten ist sie nun stabil, hat ihren Job gewechselt, arbeitet jetzt in einer Wäscherei, leitet ehrenamtlich eine Selbsthilfegruppe.

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Wie das alles für ihre Kinder gewesen sei, möchte ein Schüler wissen. „Schlimm“, antwortet Marion Schuh. „Weil Mama sonst immer die Starke ist – und dann ist sie die Schwache.“ Ob manche Leute nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, fragt ein Mädchen. „Man merkte schon, dass die Leute einem etwas aus dem Weg gehen. Sie wissen halt nicht, wie sie einen ansprechen sollen“, sagt Schuh. Im Nachhinein seien einige Menschen auf sie zugekommen und hätten berichtet, dass sie auch betroffen sein.

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Filme vermitteln oft ein falsches Bild

Alleine, das unterstreicht die 59-Jährige mehrfach, lasse sich das Problem nicht in den Griff bekommen. „Man muss sich Hilfe suchen. Und man muss mit anderen darüber sprechen.“ Ganz wichtig seien für sie selbst die Klinikaufenthalte gewesen. „Was für Vorstellungen habt ihr denn von der Psychiatrie?“, fragt sie in die Runde.

„Dass man da an einen Stuhl gebunden wird“, ist die erste Antwort. Schnell wird klar, dass das von Film und Fernsehen vermittelte Bild trostlose bis schreckliche Ideen vermittelt. „Mir war ja selbst mulmig“, sagt Marion Schuh über die Zeit vor ihrer ersten stationären Behandlung. Auch vor der Einnahme von Medikamenten habe sie Angst gehabt. Aber die Realität sei eine ganz andere gewesen. „Ich habe mich wohlgefühlt, weil ich gemerkt habe, dass ich Hilfe bekomme.“ Die verzerrten Darstellungen in Filmen seien dann aber ein Problem, merkt ein Junge an, „dann will da doch niemand hingehen“. Das sei das Schlimme, pflichtet Marion Schuh bei: „Dass viele dadurch Zeit verlieren, sich helfen zu lassen.“

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Alleine nicht zu schaffen

Sie habe viel über sich gelernt, sagt sie. Auf sich zu achten. Zurückzuschrauben. „Auch, dass die Krankheit zu mir gehört, auch wenn ich stabil bin“. Ausgehend von diesem Wissen habe sie ihr Leben neu ordnen müssen. Das wichtigste sei es, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Ihr Appell: „Wenn man merkt, dass es einem nicht gut geht: dass man sich Hilfe sucht. Alleine kriegt man das nicht hin.“

Kontakt zum Schulprojekt: Reselve gGmbH, 271/3 75 13 14. In akuten Krisensituationen ist die Telefonseelsorge rund um die Uhr unter 800/1 11 01 11 zu erreichen.

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