Siegen. Wissenschaftsrat liest Uni Siegen, Kliniken und Land NRW Leviten und empfiehlt: Aufgrund „erheblicher Mängel“ vom Medizinprojekt Abstand nehmen.

Zu teuer, zu viel Aufwand, uneinige Projektpartner, Hausaufgaben nicht gemacht: Der Wissenschaftsrat empfiehlt, das Projekt „Medizin neu denken“ nicht weiter zu verfolgen. Die Uni Siegen kooperiert für eine Medizinerausbildung in und für die Region mit der Uniklinik Bonn und den vier Siegener Krankenhäusern.

Ziel: Potenziale der Digitalisierung für eine bessere medizinische Versorgung im ländlichen Raum. Mit Blick auf NRW und die Herausforderungen der Universitätsmedizin fordert der Wissenschaftsrat das Land auf, vom Modellprojekt „aufgrund erheblicher Mängel Abstand zu nehmen“, heißt es in dem Gutachten.

Empfehlung: Studierende sollen in Bonn klinischen Teil absolvieren

Gravierende Planungsdefizite – inhaltlich, organisatorisch, personell, infrastrukturell, finanziell – stünden der Realisierung des Projekts entgegen. Die Partner hätten keine konkreten Maßnahmen vereinbart, diese Defizite anzugehen und ein den Qualitätsanforderungen entsprechendes Studium in Siegen ab 2021 sicherzustellen. Generell seien „Zweitcampus-Modelle“ oft aufwendig und problematisch.

Der Wissenschaftsrat

Der Wissenschaftsrat als Beratungsgremium wurde 1957 von Bund und Ländern gegründet. Er berät die Bundes- und Landesregierungen in allen Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschulbereichs.

Studierende, die bereits den Kooperationsstudiengang aufgenommen haben, sollten den klinischen Studienabschnitt nicht wie geplant in Siegen, sondern ebenfalls in Bonn absolvieren, so der Wissenschaftsrat: Es stehe zu befürchten, dass in Siegen im Jahr 2021 noch „keine Strukturen und Lehrkapazitäten für eine sachgemäße klinische Ausbildung vorhanden seien“.

Die im Konzept enthaltenen innovativen Ansätze solle das Land in die Verbesserung der regionalen Versorgung einfließen lassen, etwa im Rahmen telemedizinischer Modelle, empfiehlt der Wissenschaftsrat.

Die Siegener Kliniken: Streit verhagelt Erfolgsperspektiven

Qualität: Für eine sachgemäße und qualitätsgesicherte klinische Lehre fehlten in Siegen die Voraussetzungen, so der Wissenschaftsrat, die Krankenhäuser verfügten „nicht ansatzweise über ausreichendes habilitiertes und sonstiges wissenschaftliches Personal“. Sehr zu bemängeln sei, dass in der Personalplanung bisher nichtberücksichtigt werde, dass neben wissenschaftlichem zwingend auch zusätzliches ärztliches Personal benötigt werde, um den regulären Betrieb aufrechtzuerhalten und Freiräume für Forschung und Lehre gewährleisten zu können.

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Kooperation: Besonders kritisch sieht das Gremium den Streit der Siegener Kliniken in der Stiftungsfrage: Es gebe keine einheitliche Position zur gemeinsamen Entwicklung von Lehre und Forschung der vier Häuser und wie sie das neben der allgemeinen Versorgung stemmen wollen.

Drei Kliniken gehören der Stiftung an, eine nicht. Zudem sei die Uniklinik Bonn in der Stiftung nicht vertreten. Diese Konflikte würden die Erfolgsperspektiven des Modellprojekts beeinträchtigen, so der Wissenschaftsrat. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die zuständigen Ministerien dies nicht stärker begleitet hätten.

Die Unis: Engagement in unterschiedlichem Maße

Siegen: Das Vorhaben sei finanziell kaum tragfähig – auch, weil es versäumt worden sei, Kooperationen mit der Wirtschaft aufzubauen. Das „Reallabor Südwestfalen“ hänge zu stark von der Einwerbung von Drittmitteln ab, in Südwestfalen gebe es aber keine medizintechnische Industrie, mit der man für digitale medizinische Innovationen strategische Partnerschaften eingehen könne. Industrielles Wissen nicht einzubinden, sei bedauerlich.

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Für den klinischen Studienabschnitt ab dem siebten Semester, der in Siegen gelehrt werden soll, fehlten detaillierte Kapazitätsberechnungen, ebenso präzise Angaben zu Lehrleistungen, die – übergangsweise oder dauerhaft – von Personal aus Bonn erbracht werden sollen. Wie die Bonner Grundlagenfächer in die klinische Lehre in Siegen eingebunden werden sollen, sei offen.

Bonn: Bei den Projektpartnern in Bonn und Siegen sei das Engagement „nicht in gleichem Maße ausgeprägt“, eine ausreichende und aktive Verständigung untereinander sei nicht erkennbar. Der Wissenschaftsrat „vermisst eine intensive, gelebte Zusammenarbeit“ und könne nicht nachvollziehen, dass sich Bonn für ein gemeinsames Forschungsprogramm für das „Reallabor Südwestfalen“ bislang nicht stärker eingebracht habe.

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Rotterdam: Unklar sei auch die Rolle der externen Kooperationspartner, vor allem des Erasmus Medicine Center Rotterdam, das bislang „nicht sinnvoll“ in die Forschungsprogrammatik integriert sei.

Das Land: Es fehlt ein nachhaltiges Finanzierungskonzept

Zwar könne die Ausrichtung der Siegener Häuser an der Basisversorgung mit Blick auf den Schwerpunkt des Studiengangs von Vorteil sein, angesichts der hohen Auslastung der Kliniken, der fehlenden Infrastrukturen für Lehre und Forschung und des generellen Sanierungsstaus fehle aber Geld, so der Wissenschaftsrat: Ein zwischen Land und Standorten abgestimmtes, solides und nachhaltiges Finanzierungskonzept sowie eine adäquate Basisfinanzierung für die Forschung seien nicht gegeben.

Das Land lasse Uni und Kliniken finanziell im Regen stehen: Es gebe keine Investitionsplanung für die Krankenversorgung, die Lebenswissenschaftliche Fakultät der Uni Siegen (LWF) hat einen Finanzierungsplan nur für die Jahre 2019 bis 2021. Zusätzliche Mittel über die Anschubphase hinaus seien nicht vorgesehen, vielmehr solle die LWF durch Umschichtung von Eigenmitteln der Uni finanziert werden.

Uni Siegen will am Ball bleiben

„Das Projekt wird fortgesetzt“, sagt Dr. Thomas Grünewald, Beauftragter der Universität Siegen für „Medizin neu denken“. Die grundsätzliche Stoßrichtung des Vorhabens habe der Wissenschaftsrat als gesellschaftlich sehr relevant erachtet, die Kritik beziehe sich „auf die Art und Weise“, so der frühere Staatssekretär im NRW-Forschungsministerium. Man werde das Gutachten analysieren, mit allen Partnern besprechen und sich bei der Überarbeitung streng an die Empfehlungen und Kritikpunkte des Wissenschaftsrats halten.

Der Start der Lebenswissenschaftlichen Fakultät im aktuellen Wintersemester – 92 Erstsemester begannen den Studiengang „Digital Biomedical and Health Studies“ – sei ein guter Erfolg gewesen, „jetzt werden wir unser bestes tun, um das Projekt erfolgreich zu machen.“

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