Siegen. Neustart für das kriminalpädagogische Schülerprojekt: Statt angeklagt zu werden, werden straffällige Jugendliche zu Gleichaltrigen geschickt.

Das „Kriminalpädagogische Schülerprojekt“ (KPS) wurde in Siegen in Anlehnung an US-amerikanische „teencourts“ in behördenübergreifender Zusammenarbeit entwickelt. Dabei können Schülergremien gegen jugendliche Straftäter erzieherische Maßnahmen aussprechen.

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Die straffälligen Jugendlichen wirken freiwillig mit, die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob ein Fall für das Projekt geeignet ist und berücksichtigt die erzieherische Maßnahme bei ihrer abschließenden Entscheidung. Jetzt werden 34 neue Schüler dafür ausgebildet.

KPS – was ist das?

Hintergrund ist eine Regelung des Jugendgerichtsgesetz, wonach bei jugendlichen Straftätern von einer Strafverfolgung abgesehen werden kann, wenn sich die Täter bereits einer erzieherischen Maßnahme unterzogen haben oder unterziehen werden. Tat, Folgen und Umstände werden vor einem Schülergremium besprochen, aufgearbeitet, die Straftäter machen eigene Wiedergutmachungsvorschläge.

Die Idee dahinter

Zugrunde liegt der Gedanke, dass Reaktionen auf eine Straftat durch Altersgenossen jugendliche Straftäter wirkungsvoll beeinflusst werden und sie sich meist einsichtig zeigen. Straftaten wie Ladendiebstahl oder Fahren ohne Führerschein sehen Jugendliche mitunter eher als „sportliche Leistung“ als Gesetzesverstoß.

Bei den beteiligten Jugendlichen und ihren Schulen gibt es soziale Lerneffekte, weil Verantwortung für andere Menschen und für die Durchsetzung der Rechtsordnung übernommen wird. Zudem lernen die Jugendlichen das Jugendstrafrecht aus eigener Anschauung kennen.

Das Schülergremium besteht aus drei bis vier etwa Gleichaltrigen, die für diese Gespräche von Sozialpädagoginnen des Vereins „Brücke Siegen“, der Polizeibehörde, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts geschult.

Welche Straftaten kommen dafür in Frage?

Leichtere Delikte wie Ladendiebstahl, Körperverletzung oder Fahren ohne Fahrerlaubnis. Zwischen 2008 und 2015 wurden 43 % der Fälle wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis bearbeitet, gefolgt von Diebstahl (23 Prozent), Unterschlagung geringwertiger Sachen (19 %) sowie Körperverletzung und Drogen (5 %). Beleidigung, Hausfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung oder Urkundenfälschung machten weniger als 10 % aller Fälle aus.

Der Sachverhalt muss vollständig geklärt, die Tat gestanden sein. Eltern und Jugendliche müssen mit der Bearbeitung des Falles im Rahmen des KPS einverstanden sein, die Teilnahme ist immer freiwillig. Es ist immer auch Fachkraft anwesend.

Welche Maßnahmen werden verhängt?

Mit rund 35 Prozent der Delinquenten wurden Sozialdienststunden vereinbart 27 % mussten eine mindestens zweiseitige schriftliche Reflexion verfassen. Etwa 11 % haben sich schriftlich oder persönlich beim Geschädigten entschuldigt, weitere 11 % zahlten eine Geldbuße/Spende an eine gemeinnützige Einrichtung.

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In 8 % der Fälle kam es zu einer Konfliktschlichtung. Bei Drogendelikten (18 Personen, ~2 Prozent) galt fast immer die Auflage, an einem Gruppengespräch in der Suchtambulanz teilzunehmen. Weitere Sanktionen waren etwa die Abgabe des Rollerschlüssels (4 %), Familiengespräche, vier Personen schrieben einen Zeitungsartikel.

Seit wann gibt es das?

Die praktische Erprobung des Projekts begann in Siegen im November 2005 als Pilotprojekt für NRW. Bislang hat die Staatsanwaltschaft Siegen mehr als 300 Fälle einem Schülergremium zugeleitet. In fast allen Fällen haben die Täter die festgesetzten erzieherischenMaßnahmen erfüllt, worauf die Staatsanwaltschaft auf eine Anklage verzichtete und die Ermittlungen einstellte.

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Seit 2005 gab es sieben Ausbildungsgänge mit insgesamt 220 Schülern im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Alle zwei bis drei Jahre werden Jugendliche aller Schulformen im Stadt- und Kreisgebiet angeworben.

Wie hat sich das Projekt entwickelt?

Seit 2016 ist die Fallzuweisung starkzurückgegangen – auf nur etwa 25. 2018 waren es zwei, in diesem Jahr noch kein Fall. Laut der beteiligten Institutionen sei das KPS-Projekt leider nie durch die öffentliche Hand refinanziert worden. „Dank Geldbußenzuweisungen oder Spenden an unseren Verein waren wir bisher in der Lage, das aus unserer Sicht pädagogisch wertvolle Projekt weiterzuführen“, so Sozialpädagogin Silke Menn-Quast.

Man habe festgestellt, dass nur durch regelmäßige Information und Erinnerung bei Staatsanwaltschaft und Polizei Fälle regelmäßig zugewiesen würden. Der Fallrückgang sei möglicherweise auf personellen Veränderungen zurückzuführen – der Verein Brücke Siegen sei aber auch von 2016 bis 2018 personell sehr stark anderweitig eingebunden gewesen.

Wie ist der Stand heute?

Seit Mai werden 34 Jugendliche als Gremiumsmitglieder ausgebildet, „wir sind guter Dinge das KPS-Projekt wieder neu an den Start zu bringen“, so Menn-Quast.

Welche Straftäter betraf das?

Die Beschuldigten in den gesamten Fällen waren zu rund 66 Prozent männlich, zu 34 % weiblich. Etwa 70 % hatten die deutsche Staatsangehörigkeit ohne, 4 % waren Deutsche mit Migrationshintergrund. Etwa 2,5 % der Fälle betrafen Ausländer.

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Die meisten Beschuldigten (ein Drittel) waren zwischen 15 und 16 Jahren, ein Fünftel 17 Jahre, 13 Prozent 14 Jahre. Nur 3 % waren 18 bis 20 Jahre alt. Die meisten besuchten eine Hauptschule (36 %) gefolgt von Realschule (28 %), Gymnasium (19 Prozent) und Gesamtschule (13 %) Die restlichen 4 Prozent verteilen sich auf andere Schulformen oder waren in Ausbildung

Wie läuft die Rekrutierung ab?

Die Schulleitungen wählen geeignete Jugendliche aus, die Ausbildung dauert drei bis vier Monate mit einem wöchentlichen Treffen von etwa anderthalb Stunden. Inhalte: rechtliche Grundlagen, Konfliktmanagement, Gesprächstechniken und gewaltfreie Kommunikation.

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