Siegen. Günther Dieterich (94) wurde als Kind Zeuge, wie Bürbacher Karl Reuter deportiert wird. Theresia Dornseiffers Tochter lebt noch im gleichen Haus

Als sie Karl Reuter abholten, stand Günther Dieterich an der Straße. 84 Jahre ist das her und die Straße war 1935 noch ein Feldweg. „Autos kamen sehr selten die Straße hoch“, erinnert sich der 94-Jährige Dieterich – und dieses Auto stand dann direkt vor dem Haus der Reuters, heute das Bürbacher Heimathaus. Wenig später kam Karl Reuter mit zwei Männern heraus, er musste in das Auto steigen, die Klappe ging zu, das Auto fuhr weg. Karl Reuter, damals 41 Jahre alt, wurde in den Tod gefahren.

Fast 100 Stolpersteine erinnern in Siegen an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, für Karl Reuter aus Bürbach und Theresia Dornseiffer aus Weidenau hat der „Erfinder“ der Stolpersteine, Gunter Demnig, jetzt neue Steine gesetzt. Vor den Häusern, in denen sie zuletzt freiwillig gelebt hatten.

Gedenken an Bertha Levi

Der bereits verlegte Stolperstein für Bertha Levi sollte in der Bahnhofstraße gesetzt werden, es war allerdings zu einer Verwechslung mit ihrer Nichte Berta Levi gekommen, deren Stolperstein in der Sandstraße liegt. Die beiden Frauen waren zusammen mit weiteren Siegerländer Juden am 28. April 1942 nach Zamosc deportiert worden.

Statt eines richtigen Stolpersteins hatte es in der Bahnhofstraße bislang nur die Messingoberfläche auf dem Pflaster gegeben, die durch einen Schneepflug zerstört worden war. Die Verlegung wird nachgeholt.

Aktives Museum und Stadtjugendring engagieren sich

Federführend bei der Verlegung ist das Aktive Museum Südwestfalen; die Mitarbeiter benennen die Opfer, recherchieren meist ihre Geschichte, akquirieren Spenden, um die Kosten zu decken. Sehr engagiert dabei ist auch der Stadtjugendring.

Gunter Demnig in Bürbach: Europaweit hat er mehr als 70.000 Stolpersteine verlegt.
Gunter Demnig in Bürbach: Europaweit hat er mehr als 70.000 Stolpersteine verlegt. © Hendrik Schulz

Der 100. Stein wird im September von der THW-Jugend verlegt: Für Friedhelm Reuter, der an den Folgen der Misshandlungen durch die Gestapo starb.

Karl Reuter: Ein lange vergessenes Opfer des NS-Systems

Als Kinder hatten sie ein wenig Angst vor Karl Reuter, der Zeit seines Lebens kaum sein Geburtshaus verließ, erinnert sich Günther Dieterich. Einige Zeit, nachdem er abgeholt worden war, habe seine Mutter gesagt, dass der Karl gestorben sei. „Ich dachte: Da kann etwas nicht stimmen“, so Dieterich.

1894 geboren, litt Reuter unter epileptischen Anfällen, „erbliche Fallsucht“ hieß das damals. Medikamente gab es kaum. Archivar Dieter Tröps vom Bürbacher Heimatverein hat Reuters Geschichte recherchiert; die Akten wurden lange unter Verschluss gehalten.

Sechs Jahre in der Landesheilanstalt Dortmund-Aplerbeck

Bis Tröps im Rahmen eines Forschungsprojekts auf den typischen Siegerländer Namen Reuter stieß. Einen Karl Reuter gab es in alten Einwohnermelderegistern – aber sonst nichts. Tröps führte Gespräche mit alten Bürbachern, darunter Günther Dieterich; erfuhr, dass Reuter abgeholt worden war, als alle Erkrankten in der Region systematisch erfasst wurden.

Karl Reuter im alter von etwa 10 Jahren.
Karl Reuter im alter von etwa 10 Jahren. © heimatverein Bürbach

1935 wurde Karl Reuter in die Landesheilanstalt Dortmund-Aplerbeck eingewiesen, wo er sechs Jahre blieb. 1941 wurde er nach Warstein verlegt. Sechs Tage danach war er tot. Die Todesursache, sagt Traute Fries vom Aktiven Museum, wird in Anführungszeichen benannt. „An Lungentuberkulose ist er nicht gestorben, die hätte er schon länger haben müssen.“ Karl Reuter starb mit 46 Jahren eines gewaltsamen Todes.

„Heute ehren wir ihn, weil wir nicht vergessen sollten, weil wir uns erinnern sollten, was hier und überall in Deutschland passiert ist“, sagt Dieter Tröps bei der kleinen Zeremonie, im Rahmen derer der Stolperstein verlegt wird. „Wir sollen über die Namen stolpern.“

Theresia Dornseiffer: Zweifache Mutter schon zweimal in Behandlung

Zwei Mal hatte die Provinzialheilanstalt Warstein Theresia Dornseiffer als „gebessert“ entlassen, 1930 und 1935, nach jeweils mehrmonatigem Aufenthalt. Als die zweifache Mutter, bei der eine psychische Erkrankung vorlag, am 20. Februar 1940 das dritte Mal nach Warstein überwiesen wurde, kehrte sie nicht mehr zurück.

Gemeinsam mit Berta Hoppensack wurde sie vom nördlichen Rand des Sauerlands am 27. Juni nach Herborn verlegt, am 18. Juli dann nach Hadamar. Dort wurde sie noch am gleichen Tag vergast. Von offizieller Seite wurden damals sowohl die Todesursache als auch das Todesdatum gefälscht, um Angehörige und Behörden zu täuschen.

15.000 Menschen während „T4-Aktion“ in Hadamar ermordet

In der Tötungsanstalt Hadamar ermordeten die Nazis während der sogenannten T4-Aktion etwa 15.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Die Opfer aus der „wilden Euthanasie“ sind ungezählt. Fünf von ihnen kommen aus Weidenau, Traute Fries’ Vater hatte ihre Namen auf ein Kalenderblatt geschrieben. Theresia Dornseiffer ist das letzte Opfer, für das nun ein Stolperstein verlegt wurde.

Theresia Dornseiffer war zweifache Mutter.
Theresia Dornseiffer war zweifache Mutter. © Aktives Museum

„78 Jahre nach ihrem Tod erinnern wir an eine Frau, die willkürlich ums Leben gebracht wurde von dem mörderischen Nazisystem“, sagte Traute Fries bei der Verlegung des Steins vor dem früheren Haus Theresia Dornseiffers an der Weidenauer Straße.

Tochter, Enkel und Urenkel nehmen an der Zeremonie teil

Dornseiffers Tochter, geboren 1929, lebt heute noch dort. „Ich weiß noch, wie ein Schreiben kam, dass meine Mutter an Lungenentzündung gestorben ist“, sagt sie. Auch Dornseiffers Enkel und Urenkel nahmen an der Zeremonie teil. „Sie soll nicht vergessen werden“, sagte Traute Fries; „ihr Name steht jetzt hier, wo sie sicher auch sehr glückliche Zeiten verbracht hat.“

Die verfügbaren Informationen über die NS-Opfer aus der Region gibt es auf www.aktives-gedenkbuch.de

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