Siegen. Auffällig häufig laufen männliche Jugendliche Gefahr, in eine Glücksspielsucht abzurutschen. Das Berufskolleg Technik Siegen will gegensteuern.
Zunehmend laufen Jugendliche Gefahr, glücksspielsüchtig zu werden. Auffällig oft betrifft das Berufskollegs, denn deren Schüler sind eine wichtige Zielgruppe der inzwischen stark im Internet präsenten Glücksspielindustrie. Auch die Schulsozialarbeit des Siegener Berufskollegs Technik hat mit Fällen zu tun, in denen Schüler in eine Sucht abgerutscht sind. Die Schule hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, präventiv tätig zu werden (siehe Box).
Die Jugendlichen
Berufskollegschüler werden von der Industrie umworben, sagt Frances Trümper, Suchttherapeutin und Sozialpädagogin: Junge Männer am Anfang des Berufslebens, sehr oft mit Migrationshintergrund. Auch wenn nur gut ein Prozent der Jugendlichen tatsächlich eine Sucht entwickle – Kontakt mit Glücksspiel hätten mehr als zwei Drittel, so Rosa Büdenbender, Abteilungsleiterin Berufsvorbereitung am Kolleg.
Das Projekt
Das Projekt „Glüxxit“ richtet sich an Schüler und vorrangig an Multiplikatoren wie Lehrer oder Schulsoziarbeiter, die eine Schlüsselfunktion beim Erkennen gefährdeter Jugendlicher und bei der Vermittlung in Hilfesysteme haben, wenn die Risiken des Glücksspiels unter- und der Einfluss aufs Spiel überschätzt wird.
Zunehmend kämen Jugendliche zur Suchtberatung, die sich der Gefahr von Glücksspielsucht kaum bewusst seien, berichtet Frances Trümper, die für das Projekt „Glüxxit“ arbeitet. „Viele prahlen mit den Beträgen, die sie gewonnen haben – und verschweigen, was sie verloren haben“, so die Beobachtung des Psychologen Dr. Tobias Hayer (Uni Bremen), der zu Glücksspiel und Jugendlichen forscht. Neun von zehn Klienten bei Suchtberatungsstellen seien männlich.
Die Sucht
Gefahren liegen vor allem im schnellen Übergang von „nur mal eben spielen“ zur wirklichen Sucht, so Rosa Büdenbender. Zudem werde häufiger anonym im Internet gespielt, soziale Kontrolle fällt weg. Freunde und Familie bekommen das kaum mit, „am ehesten merken noch die Lehrer, wenn ein Schüler völlig übermüdet im Unterricht sitzt“, meint Büdenbender. Auch glaubten viele Jugendliche, das Problem selbst in den Griff bekommen zu können. Psychologe Hayer spricht von „hidden addiction“, einer verborgenen Sucht: „Es gibt keine Nadeleinstiche, keine Alkoholfahne, kein Torkeln“, sagt er. Manche Süchtigen führten Jahre und Jahrzehnte ein Doppelleben, ohne dass es jemandem auffalle. Dabei könnten die Symptome ähnlich ausfallen wie bei Drogen: innere Unruhe, Schlafstörungen, Schweißausbrüche oder Aggression. Die Sucht werde zum zentralen Lebensinhalt, die Dosis werde immer mehr gesteigert, die Fähigkeit zur Abstinenz gehe verloren.
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Poker und Sportwetten sind die Favoriten der Jugendlichen, so Schulsozialarbeiterin Nathalie Henrichs. Hier werde suggeriert, dass man durch Kompetenz erfolgreich sein könne. „Die Jugendlichen verlassen sich darauf, dass sie sich im Sport auskennen. Aber es ist ein Trugschluss, einfach Geld vermehren zu können. Es hat eben nichts mit Kompetenz zu tun“, sagt Hayer.
Die Glücksspielindustrie
Spielstätten auf der einen Seite hätten ihr Erscheinungsbild in den vergangenen Jahren deutlich verändert, sagt Trümper: Weg von der Spielhölle hin zu Räumen mit Wohlfühlcharakter, teils Hotel-Lobby-artige Einrichtung mit livriertem Personal. Andererseits findet ein großer Teil der Glücksspielkontakte eben im Internet statt – bargeldlos. „Es ist psychologisch etwas anderes, Scheine aus dem Portemonnaie zu nehmen. Ein paar Mausklicks verschleiern den Geldwert“, sagt Hayer. Das Netz locke mit hohem Tempo, man könne im Sekundentakt an fünf virtuellen Pokertischen gleichzeitig spielen, ohne warten zu müssen, wieder an der Reihe zu sein. Gerade der Bereich Sportwetten habe stark expandiert, sagt Frances Trümper – eine milliardenschwere Industrie, die nicht als Glücksspiel wahrgenommen werde. „Das Angebot ist in Deutschland sehr breit gefächert, es gibt eine hohe Verfügbarkeit von Glücksspielangeboten“, sagt Forscher Hayer.
Die Konsequenzen
Schüler an Berufskollegs verdienen überwiegend ihr eigenes Geld. „Beim Thema Privatinsolvenz wissen viele Schüler aus eigenem Erleben schon gut Bescheid“, ist Rosa Büdenbenders Beobachtung aus dem Wirtschaftsunterricht. Es sei vorgekommen, dass Schüler Sparbücher geknackt hätten, berichtet auch Schulsozialarbeiterin Stefanie Benner. Glücksspielsucht sei zwar kein Massenphänomen, könne aber Biografien zerstören – auch die der Angehörigen, sagt Tobias Hayer, der mit Schülern und Lehrern des Berufskollegs Schulungen und Workshops durchführt, um für das Thema zu sensibilisieren, Anzeichen früh zu erkennen und Wege aus der Sucht aufzuzeigen. Neben Insolvenzen trete auch Beschaffungskriminalität bei Glücksspielsüchtigen auf; der Verlust des Arbeitsplatzes, Konflikte in der Familie. Gerade weil Glücksspielsucht nicht so „anerkannt“ ist wie etwa Alkoholismus, benötigten auch die Angehörigen Hilfe. Die Suizid-Rate sei unter Glücksspielsüchtigen vergleichsweise hoch, so Hayer: Wer sein Verhalten nicht mehr unter Kontrolle habe, Scham und Schuld empfinde, etwa weil für das Glücksspiel das Sparschwein des eigenen Kindes geknackt wurde, suche den letzten Ausweg.
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Die Prävention
Allein in den Spielhallen in Siegen hätten Spieler im Jahr 2017 mehr als 9,2 Millionen Euro verloren, so Frances Trümper – und hier halten sich Jugendliche kaum auf. Deshalb hätten Schulen das Problem auch lange nicht erkannt, weil Minderjährige Spielhallen nicht betreten dürfen. Durch die Verlagerung ins Netz sind aber auch schulische Belange berührt: „Zuerst möchten wir Wissen vermitteln“, sagt Rosa Büdenbender, – aber die Schule habe auch einen erzieherischen Auftrag. Auch in Siegen suchten Eltern oder Ausbilder den Kontakt zur Schule, wiesen auf einen Leistungsabfall oder Übermüdung hin, berichtet Schulsozialarbeiterin Benner. Zusammen mit den Jugendlichen versuche man dann, das Problem anzugehen – wobei Erkennen schwieriger sei als Lösen.
Die Hilfe
„Abstand zum Spielmedium finden“, betont Frances Trümper: Dem Süchtigen muss der Zugriff auf Geld verwehrt sein, hilfreich sind Hausverbote in Spielhallen, Sperren auf dem Handy, die der Süchtige nicht selbst umgehen kann. „Das braucht die Unterstützung aus dem Umfeld“, betont sie.
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