Siegen-Wittgenstein. Netzwerke in Siegen-Wittgenstein sollen jungen Menschen schnellere Hilfe gegen Missbrauch und Misshandlung vermitteln.

  • Behörden, Jugendämter und Kitas, Schulen, Justiz und Polizei, Beratungsstellen, Ärzte und Vereine arbeiten zusammen
  • Im Jugendhilfeausschuss des Kreises ging es jetzt um Theorie und Praxis
  • Zu- und Absagen in der Bevölkerung zu den „Frühen Hilfen“ halten sich in der Waage

Udo Hüttmann, Leiter des Regionalen Sozialdienstes Süd, erinnert an die Zahl, die — neben dramatischen Fällen von Missbrauch und Misshandlung — die Politik zu einem Bundeskinderschutzgesetz veranlasste: Durchschnittlich sieben Personen muss ein Kind ansprechen, bis ihm zugehört wird und es Hilfe bekommt. Das soll sich ändern. Auch in Siegen-Wittgenstein entstehen „Regionale Netzwerke Kinderschutz“, in denen Behörden, Jugendämter und Kitas, Schulen, Justiz und Polizei, Beratungsstellen, Ärzte und Vereine zusammenarbeiten. Im Jugendhilfeausschuss des Kreises ging es jetzt um Theorie und Praxis.

Netzwerke

„Kinderschutz gehört in die Hände aller Beteiligten“, sagt Hüttmann, der den Aufbau der Netzwerke betreut, „man muss die Menschen dazu gewinnen“. Durchblicken lassen die Ausschussmitglieder, dass der Prozess, Akteure an Runden Tischen zusammenzubringen, nicht leicht ist. Einen „Austausch auf Augenhöhe“ stellt Vorsitzende Petra Weskamp (SPD) fest — „das war nicht immer so“. Anne Bade (Grüne) spricht von „den Menschen, die ihr verloren habt“. Eine Feststellung, auf die Jugendamtsleiterin Pia Cimolimo verärgert reagiert: Es sei doch gelungen, „dass die vielen Bereiche sich angenähert haben“.

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Schulamtsdirektor Walter Sidenstein bestätigt das. Leitfaden und Checkliste für Anhaltspunkte von Kindeswohlgefährdung seien eine Hilfe für Lehrerinnen und Lehrer. Auch Sidenstein räumt ein, dass das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Schule „nicht immer konfliktfrei“ gewesen sei. Patricia Hecker, Fachbereichsleiterin bei der AWO, sieht die ersten Wirkungen der Handreichungen, die für die Kitas erarbeitet wurden: Die Zahl der Fallbesprechungen nehme zu — „wir merken das schon.“

Mädchenberatung

Die Klientinnen: Dr. Verena Lüttel und ihre Beratungsstelle für Mädchen im Not in Kreuztal (Ifpake) ist in der Regel erst dann gefragt, wenn Prävention ihr Ziel verfehlt hat. 107 „Fälle“ hat das kleine Team mit zwei Sozialpädagoginnen im vorigen Jahr betreut. „Prävention ist für uns sehr wichtig“, erklärt sie, warum die Beratungsstelle immer Wert auf Einsätze in den Schulen legt — „eigentlich immer“, fügt sie hinzu, sehen die Mitarbeiterinnen danach Mädchen wieder, bei denen Ifpake gerade in der Klasse war. Als Ratsuchende. Es sind Erzieher, Lehrer, Freundinnen, vor allem aber auch Mütter, die den Betroffenen den Weg zur Beratungsstelle zeigen oder sie begleiten.

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Dreieinhalb Jahre jung war die jüngste, 27 die älteste Klientin. Immer, so Verena Lüttel, sind auch Vorschulkinder dabei. „In den allermeisten Fällen brauchen die Mütter auch Hilfe.“ Dass der Fortschritt bei der Arbeit für das Kindeswohl spürbar ist, bestätigt auch Dr. Lüttel, die das Beratungsangebot für Mädchen vor nunmehr 28 Jahren etabliert hat: Hilfen zu vermitteln, „geht jetzt offenbar leichter und schneller“.

Die Finanzen: 90 Prozent der Kosten für eine Fachkraftstelle trägt der Kreis, weitere Zuschüsse kommen von den Städten Kreuztal und Siegen. „Ohne Spenden könnten wir das Angebot nicht aufrecht erhalten“, sagt Dr. Verena Lüttel. Ihr Wunsch, „mindestens“ eine halbe weitere Stelle kommunal finanzieren zu können, liegt auf der Hand.

Frühe Hilfen

Ganz am Anfang eines Menschenlebens setzen die „Frühen Hilfen“ an: „BIBU“ steht für „Begrüßen, informieren, beraten, unterstützen“. Eltern von Neugeborenen bekommen seit Ende 2014 acht bis zehn Wochen nach der Geburt Post und das Angebot eines Besuchs, ebenso neu zugezogene Eltern von Kindern bis zu drei Jahren.

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Die Resonanz: Gerold Wagener, stellvertretender Leiter des Jugendamts, stellt die Bilanz des Jahres 2016 vor: Bei den einheimischen Familien mit Neugeborenen halten sich Zu- (449) und Absagen (454) nahezu die Waage, gut ein Viertel (336) reagiert gar nicht; bei den Zugezogenen will nur ein Viertel (36) die beiden Mitarbeiterinnen und ihr Begrüßungspaket mit Informationen und Präsenten empfangen.

Unterschiede bei den Zusagequoten (kreisweit: 36,1 Prozent, 2015: 33,5 Prozent) gibt es zwischen den Kommunen: Besonders aufgeschlossen zeigen sich Familien aus Netphen (48,5 Prozent) und Wilnsdorf (40,9 Prozent, eher zurückhaltend sind Erndtebrücker (19,7 Prozent), Bad Berleburger (24,6 Prozent) und Hilchenbacher (28,7 Prozent). Die Stadt Kreuztal beteiligt sich nicht an dem Projekt; sie bietet die Willkommensbesuche bereits seit 2009 mit eigenem Personal an.

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Die Themen: In der Regel dauern die Gespräche eine Stunde, etwa die Hälfte sogar bis zu anderthalb Stunden. Mit Abstand am meisten besprochen werden Betreuungsmöglichkeiten und Angebote für Familien, deutlich gestiegen ist das Interesse an Ernährungs- und Gesundheitsfragen. Teil des Bibu-Angebotes ist auch die mobile Elternberatung mit Themenabenden in den Familienzentren aller Kommunen im Jugendamtsbezirk. „Im Moment“, berichtet Gerold Wagener, „ist das Thema Geschwisterrivalität ganz groß gewünscht.“

Auf ihrem Wunschzettel regen einige Familien an, die Besuche schon während der Schwangerschaft anzubieten. Bedarf besteht nach erweiterter Kindertagesbetreuung, mehr finanziellen Hilfen, dem Einsatz von Hebammen. Thema ist aber auch die Ausstattung mit Spielplätzen und die kostenlose Windeltonne.“

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