Hagen. . In Sachen Kindeswohlgefährdung werden nur im Kreis Olpe weniger Verfahren eingeleitet als in Hagen. Woran liegt das?

  • In Hagen extrem wenige Verfahren zur Kindeswohlgefährdung
  • Stadt: Enges Präventionsnetz zahlt sich aus
  • Landesjugendamt: In Hagen wird besser eingeschätzt

Sind wir in Hagen eine Insel der Glückseligen, in denen es Kindern so gut geht? Oder ist es genau das Gegenteil: Schaut das städtische Jugendamt nicht so genau hin? Außer im sehr ländlichen Kreis Olpe, der noch geringere Fallzahlen aufweisen kann, gab es im vergangenen Jahr in keiner Großstadt und in keinem Kreis in Nordrhein-Westfalen so wenige Verfahren zur Einschätzung des Kindeswohls wie in Hagen. Es waren ganze 74 Fälle. Die Verfahren müssen eingeleitet werden, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen oder seelischen Wohls bei einem Kind oder Jugendlichen befürchtet wird.

Dichtes Kinderschutz-Netz

Zum Vergleich: Die etwa gleich große Stadt Hamm hat mehr als sechsmal so viel Fälle: 464. Und selbst wenn man die relativ hohe Zahl der Fälle abzieht, in denen sich dort am Ende keine Kindeswohlgefährdung und auch kein Hilfebedarf ergeben haben, dann bleibt noch ein großer Unterschied. Während es in Hamm im Jahr 2015 am Ende 59 Fälle gab, in denen eine akute seelische oder körperliche Gefährdung eines Kindes festgestellt wurde, waren es in Hagen nur sieben Fälle.

Bei dem für Hagen zuständigen Landesjugendamt, das beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe angesiedelt ist, läuten dennoch nicht die Alarmglocken. „Wir haben zwar kein Weisungsrecht“, so LWL-Sprecher Markus Fischer. „Aber es gibt alle zwei Jahre einen Bewertungsbericht.“ Und der zeige: Landesweit stelle sich bei etwa 70 Prozent der eingeleiteten Verfahren am Ende heraus, das keine echte Gefahr für das Kind bestanden habe. Hagen hingegen habe eine weitaus bessere Quote: Bei den Verfahren gebe es dann eine echte Kindeswohlgefährdung. LWL-Sprecher Fischer: „Die Kollegen in Hagen können das offensichtlich sehr gut einschätzen.“

76 Kinder aus Familien heraus geholt

Bei den 74 im Jahr 2015 in Hagen eingeleiteten Verfahren gab es nach der Prüfung nur in sieben Fällen eine akute Kindeswohlgefährung, in weiteren sieben eine latente Gefährdung und in 31 Fällen nur Hilfebedarf. In 29 Fällen traf beides nicht zu.

Gleichwohl ist die Zahl der „Inobhutnahmen“, wenn also ein Kind vom Jugendamt aus einer Familie herausgeholt wird, viel höher – weil manche dieser Fälle Ergebnis eines schon längeren Betreuugsbedarfs sind. Im Jahr 2015 gab es 76 Inobhutnahmen (2013: 81, 2014: 84). Zudem wurden 32 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut.

Rainer Goldbach, Leiter des Sozial-Fachbereichs bei der Stadt und damit verantwortlich für das Jugendamt, sieht in den sehr niedrigen Fallzahlen auch ein Indiz, dass in Hagen inzwischen das dichte Netz an Kinderschutzmaßnahmen greift, bevor tatsächlich das scharfe Schwert eines Verfahrens wegen Kindeswohlgefährdung gezogen werden muss. „Dieses Präventionsnetz zahlt sich aus“, so Goldbach. Es gebe das flächendeckende Netz von Familienzentren, Willkommensbesuchen bei Neugeborenen, Familienbegleitern, Frühen Hilfen und noch vielem mehr. „Wir wissen dadurch schon sehr gut, was in den einzelnen Stadtteilen abläuft.“

Dabei sei nicht nur die Stadt Akteur, sondern viele freie Träger in der Jugendhilfe, der Kinderschutzbund, die Kinderschutzambulanz und viele mehr. Im Kinderschutzforum seien auch Polizei und Kinderärzte mit dabei. „Das ist ein dichtes und gut funktionierendes Netzwerk, das früh Probleme erkennt.“

Der Blick auf Vergleichsstädte.
Der Blick auf Vergleichsstädte. © WP

Nachdem die Vorschriften 2007 in ganz Deutschland verschärft worden waren, da seien, so Goldbach, auch in Hagen die Verfahrens-Zahl in die Höhe geschnellt. „Inzwischen können unsere Mitarbeiter dies aber richtig einordnen.“ Und Goldbach weist vehement den Verdacht zurück, dass die niedrigen Fallzahlen etwas mit Hagens Finanzmisere zu tun haben: „Wir haben nicht gespart, wir haben im Jahr 2015 noch mal 2,5 Millionen Euro mehr ausgeben als im Jahr zuvor.“

Weiter an Präventionskette arbeiten

Manuela Pischkale-Arnold, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Hagen und qua Amt oberste Kinder-Lobbyistin, stützt Goldbachs Sicht: Im Netzwerk werde gute Arbeit geleitet. Aber sie weiß, dass es abseits der akuten Gefährdung an Körper und Seele sehr viele Kinder mit Hilfebedarf in Hagen gibt. Und dass insbesondere auch bei neu zugewanderten Familien der Zugang oft problematisch ist: „Wir müssen weiter an der Vollendung der Präventionskette arbeiten.“