Meschede. Renate Liedtke ist Jahrgang 1946 - wie die WP, die sie seit 2007 morgens austrägt. Ihre Generation habe viel Glück gehabt, sagt sie dankbar.

1946. Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende, Deutschland liegt am Boden. Doch es gibt auch Aufbruchstimmung - und es werden Kinder geboren. Eins davon im Oktober 1946 ist Renate Liedtke. Damit ist die Meschederin genauso alt wie die Westfalenpost, die sie täglich als Zeitungsbotin verteilt.

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„Wir haben doch unheimlich viel Glück gehabt“, sagt die Rentnerin dankbar und schließt in diesen Satz auch irgendwie die Tageszeitung ein. „Wir wurden geboren, als der Krieg bereits zu Ende war. Alle starteten auf dem gleichen Level. Der Wohlstand kam nach und nach. Einen Krieg mussten wir nicht erleben. Wir hatten wirklich eine schöne Zeit!“

Lehre im Schuhhaus Stracke mit 14 Jahren

Und die begann für Renate Liedtke als Zweitälteste von vier Kinder in der Familie Hermes in Wennemen. „Das ganze Dorf war unser Spielplatz!“ Aus dem Dorf heraus, kam sie allerdings eher selten. „Wir waren schon froh, wenn wir mal nach Meschede ins Kino durften.“ Mit 14 begann sie ihre Lehre im Schuhhaus Stracke. „Eine höhere Schullaufbahn wäre für sie - als Mädchen - nicht in Frage gekommen, erzähl sie. „Und ob ich diese Lehre wollte, wurde ich auch nicht gefragt.“ Ihr Vater und ihr Lehrherr hatten das ausgemacht. Die beiden Männer waren befreundet.

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Vier Jahre in Fontainebleau

Die Seniorin blickt ohne Ärger auf diese Zeit zurück. Denn als junge Ehefrau und Mutter kam sie dann doch noch in die weite Welt. „Mein Mann war als Zivilist bei der Bundeswehr beschäftigt. Für vier Jahren zogen wir nach Fontainebleau, 60 Kilometer südöstlich von Paris.“ Eine schöne Zeit, sagt sie, eine Zeit, die den Blick weitete. „Die Franzosen waren in vielen Dingen viel lockerer als wir.“ Die Kinder Olaf und Silke waren sechs und fünf Jahre alt, sie besuchten die französische Schule und lernten schnell die fremde Sprache. Zurück im Sauerland blieb bei allen vier die Liebe für Land und Leute und für die französische Küche. „Vor allem mein Mann hat gern und gut gekocht.“

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Renate Liedtke wollte selbstständig sein und ihr Mann ließ sie. Als die Kinder sie immer weniger brauchten, begann sie wieder stundenweise zu arbeiten. „Ich wollte mein eigenes Geld verdienen. Für meinen Mann war das so ok, dass ich allein rausging, dass ich ein eigenes Konto hatte.“ Sie hätten eine gleichberechtigte Ehe geführt. „Das war lange nicht in allen Ehen meiner Generation so.“

Zeitungszustellerin seit 2007

Siegfried Liedtke starb 2008. Ein Jahr vorher hatte seien Frau begonnen, Zeitungen auszutragen. „Ich bin eine Frühaufsteherin.“ Um kurz vor vier klingelt ihr Wecker. „Nach der Runde frühstücke ich gemütlich und lese die Zeitung. Der Tag beginnt dann richtig um 9 Uhr.“ Zwischendurch hatte sie den Job mal für ein Jahr gekündigt. „Aber dann habe ich wieder angefangen. Mir hat das einfach gefehlt. Ich liebe diese frühen Gänge.“

Renate Liedtke wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Das Bild zeigt sie im Kreis ihrer sechs Enkeltöchter. Die Zeitungsbotin ist damit genauso alt wie die Westfalenpost.
Renate Liedtke wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Das Bild zeigt sie im Kreis ihrer sechs Enkeltöchter. Die Zeitungsbotin ist damit genauso alt wie die Westfalenpost. © Privat

Einmal wurde sie sogar beraubt. „Ich hatte das Auto an der Liegnitzer Straße morgens um vier Uhr unverschlossen stehen gelassen und die Zeitungen zu Fuß ausgetragen. Als ich zurückkam, sah ich einen jungen Mann, der sich an meinem Kofferraum zu schaffen machte. Das Radio hatte er schon ausgebaut.“ Sie spricht ihn an, er flieht, sie setzt ihm mit dem Auto und dann zu Fuß nach. Er lässt die Sachen fallen. „Mehr wollte ich ja nicht“, sagt sie und ist im Rückblick trotzdem ein wenig erschrocken über die eigene Courage. „Eigentlich war das dumm und gefährlich. Das würde ich heute auf keinen Fall machen.“

Schütze mit Hut und Sakko, aber ohne Hose

Ansonsten erlebe man schon mal die „dollsten Sachen“, wenn man frühmorgens zu Fuß unterwegs sei. „Nach dem Stadtschützenfest kam mir mal ein Schütze mit Hut und Sakko, aber ohne Hose entgegen“, erzählt sie schmunzelnd. Wer das war, erzählt sie nicht. Zeitungszusteller-Geheimnis.

Renate Liedtke singt seit mehr als 30 Jahren im Frauenchor Wennemen, war dort auch zwölf Jahre Vorsitzende. Das Singen und die Gemeinschaft fehlen ihr besonders. Seit 35 Jahren trifft sie sich regelmäßig mit sechs Klassenkameradinnen. Sie ist Mitglied im SGV, Mitarbeiterin der kfd Mariä Himmelfahrt, Lektorin und Oma von sechs Enkeltöchtern. „Ich sehe meine Kinder und die meisten Enkelinnen zwar regelmäßig, aber als Alleinstehende ist diese Corona-Zeit schon besonders belastend.“

Immerhin warten noch Ziele, wenn Corona endlich vorbei ist. „Eine Romfahrt war für Oktober geplant und ist dann abgesagt worden. Da stehe ich mit einer Freundin noch auf der Liste. Und auch die Nordlichter will noch sehen.“ Erstmal wird sie im Oktober 75. Und wenn es die Pandemie zulässt, wird sie den Tag auch gebührend feiern.

Box

In diesem Jahr wird die Westfalenpost 75 Jahre alt.

Die WP erschien erstmals 1946 in Soest mit einer Lizenz der britischen Militärregierung.

In unregelmäßigen Abständen blicken wir aus diesem Anlass zurück, aber vor allem auch nach vorn.