Menden. Mit fast nichts stranden Naela und Mahmoud 2015 in Menden. Sabine Sinemus kümmert sich um die syrische Familie. Was 2024 daraus wurde.

An die erste Begegnung erinnert sich Sabine Sinemus noch ganz genau: Als sie an der Tür ihrer neuen Nachbarn klingelte, um ihnen am Umzugstag eine Tasse Kaffee anzubieten, öffnete die Familienmutter mit ängstlichem Blick. Woran das lag, erfuhr Sabine Sinemus erst viele Wochen später. Da war bereits eine Freundschaft zwischen der Mendenerin und der syrischen Familie, die aus ihrer Heimat flüchten musste und nach Monaten der Angst und Ungewissheit in Menden gelandet war, entstanden. Die erste Begegnung liegt mittlerweile mehr als acht Jahre zurück. Und die heute 61-jährige Sabine Sinemus hat Freunde fürs Leben gewonnen.

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An dem Tag Anfang Dezember 2015 bringt Sabine Sinemus gerade den Müll runter, als sie die vierköpfige Familie sieht, die in das Haus in der kleinen Siedlung in Menden einziehen will. Als sie wieder in ihrer Wohnung ist, überlegt sie spontan, den neuen Nachbarn eine Tasse Kaffee vorbeizubringen. „Schließlich weiß man ja aus eigener Erfahrung, dass es dauert, bevor die Kisten ausgepackt sind“, sagt Sabine Sinemus. Als sie klingelt und mit der deutschen Sprache nicht weiterkommt, „kramte ich mein Schulenglisch hervor und fragte auf Englisch, ob ich eine Tasse Kaffee anbieten dürfte“. Wie sich herausstellt, ist die Kaffeemaschine der neuen Mieter schon im Einsatz. „Mich wunderte nur der offensichtlich ängstliche Blick dieser äußerst sympathischen jungen Frau“, blickt Sabine Sinemus auf ihre erste Begegnung mit Naela* zurück.

Die haben Dinge erlebt, die niemand erleben sollte.
Sabine Sinemus - über die syrische Familie

Die Mendenerin sagt der Frau, dass sie hier sehr willkommen sei mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern – ein neunjähriges Mädchen und ein siebenjähriger Junge. „Die Familie kam aus Syrien und gehörte zu den vielen Flüchtlingen, die unter anderem auch in unserem Land Sicherheit und ein Leben ohne die Angst und den Schrecken, die ein furchtbarer Krieg mit sich bringt, leben wollten“, sagt Sabine Sinemus. Die Familie stammt aus der Stadt Kobane in der Nähe von Aleppo. Bis sie in Menden landen, liegt eine monatelange Flucht hinter der Familie: „Die haben Dinge erlebt, die niemand erleben sollte“, sagt Sabine Sinemus. Sie waren immer in der Angst, den nächsten Tag nicht zu erleben.

Flüchtlinge aus Syrien kommen mit ihrem Gepäck in einer Erstaufnahmeeinrichtung an (Symbolbild). Auch die Familie, mit der die Mendenerin Sabine Sinemus eng befreundet ist, musste ihre Heimat Syrien verlassen.
Flüchtlinge aus Syrien kommen mit ihrem Gepäck in einer Erstaufnahmeeinrichtung an (Symbolbild). Auch die Familie, mit der die Mendenerin Sabine Sinemus eng befreundet ist, musste ihre Heimat Syrien verlassen. © picture alliance/dpa | Marcus Brandt

Sabine Sinemus fällt am ersten Tag der Begegnung ein, dass sich im Keller noch die vielen Kuscheltiere ihrer eigenen Kinder, die längst erwachsen sind, befinden. Unbespielt, wie neu, trocken und staubsicher verpackt. Sie geht in den Keller, schnappt sich einen riesigen Dinosaurier und einen großen Husky aus Plüsch, schellt erneut bei den neuen Nachbarn an. Wieder öffnet die junge Frau die Tür, wieder mit diesem ängstlichen Blick. Als Sabine Sinemus ihr erklärt, dass sie für die Kinder für die erste Nacht in ihrem neuen Zuhause Kuscheltiere hat, schießen der jungen Frau die Tränen in die Augen. „Und ehe ich mich versah, lagen wir uns beiden in den Armen“, erinnert sich Sabine Sinemus. „Wir kannten uns nicht, waren uns so fremd und trotzdem war da keine Scheu, sich einfach in den Arm zu nehmen. Auch ich hatte plötzlich die dicken Tränen in den Augen, so sehr rührte mich diese Situation an.“

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Ein paar Tage später folgt Sabine Sinemus gerne der Einladung zum Kaffeetrinken. „Von Anfang an war es ein sehr herzliches Miteinander“, erzählt sie. Die Mendenerin lernt den Rest der Familie – Vater Mahmoud* und die beiden Kinder – kennen. „Die Sprachbarriere war durch die Englischkenntnisse auf beiden Seiten schnell überwunden und das, was an Vokabeln fehlte, konnte der Translator im Handy ausgleichen.“

Kinder haben zunächst kein Spielzeug

Schnell bemerkt Sabine Sinemus, dass dieser Familie noch sehr viel fehlt. Die Betten sind in keinem guten Zustand („die fielen fast auseinander“), auch Oberbetten und Kopfkissen nicht, die Küche ist schlecht eingerichtet, die Kinder haben kein Spielzeug.

Als Sabine Sinemus ihren Eltern vom Schicksal der Familie erzählt, beauftragen diese ihre Tochter, „auf ihre Kosten den Kindern zunächst ein vernünftiges, qualitativ gutes Etagenbett zu kaufen, gefolgt von Oberbetten und Kopfkissen“. Ihre Eltern seien keine reichen Menschen, ergänzt Sabine Sinemus, „aber sie waren so gerührt von der Familie und wollten helfen“. Und so ist es bis heute geblieben.

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Mama, egal wohin ich meinen Kopf lege, es ist überall so weich.
Naelas und Mahmouds Tochter - als sie sich zum ersten Mal ins neue Bett kuschelt

„Nie werde ich die Blicke der Familie vergessen, als ich plötzlich mit den gelieferten Kartons vor ihrer Tür stand“, sagt Sabine Sinemus. „Gemeinsam bauten wir das Bett auf und ich höre heute noch den Satz der Tochter in meinen Ohren, als sie sich zum ersten Mal unter ihr Oberbett kuschelte: ,Mama, egal wohin ich meinen Kopf lege, es ist überall so weich....‘.“

Die gesamte syrische Familie stand vor meiner Tür, um uns ein frohes Osterfest zu wünschen.
Sabine Sinemus

Einige Zeit später weiß Sabine Sinemus, dass ihre Nachbarin Naela schwanger ist. Das Baby soll im März 2016 zur Welt kommen. Dann kommt Ostern. Sabine Sinemus‘ Eltern sind bei ihr, als es an ihrer Tür schellt: „Die gesamte syrische Familie stand vor meiner Tür, um uns ein frohes Osterfest zu wünschen.“ Jetzt sollen ihre Eltern auch die Familie persönlich kennen lernen. „Da kam es zu einer Situation, die sich tief in unser aller Herzen eingebrannt hat, erzählt Sabine Sinemus. „Naela, die meine Eltern ja noch nie gesehen hatte, legte meiner Mutter das Kostbarste, das sie besaß, in den Arm, nämlich ihren nur wenige Wochen alten Sohn. Damit war eine Vertrautheit besiegelt, die keiner Worte bedurfte.“

Naela befürchtete, Ärger zu bekommen

Irgendwann vertraut Naela Sabine Sinemus an, warum sie bei ihrer ersten Begegnung so voller Angst gewesen war: Naela befürchtete, dass sie Ärger bekommen würde. Denn kurz zuvor hatte sich eine andere Nachbarin beschwert, weil es am Umzugstag zwischendurch etwas lauter wurde.

Mit den Kindern übt Sabine Sinemus die deutsche Sprache

Es folgen Wochen, Monate und Jahres eines gemeinsamen Miteinanders. „Die beiden älteren Kinder kamen jeden Sonntag zu mir und übten mit mir die deutsche Sprache.“ Sabine Sinemus schreibt Aufsätze mit den Kindern, übt Diktate: „Bestimmt hatten sie nicht immer Lust dazu, aber der Erfolg blieb nicht lange aus. Harry-Potter-Filme wurden zu einem gemeinsamen Erlebnis mit Kuscheldecke, heißem Kakao und der einen oder anderen Schleckerei, Heimkino bei mir, so schön, dass man es sich kaum vorstellen kann. Nicht nur die Kinder haben sich auf diese gemeinsamen Fernsehabende gefreut, auch ich habe sie sehr genossen.“

Als das eine oder andere Zimmer in Sabine Sinemus‘ Wohnung renoviert werden muss, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Mahmoud, der Familienvater, das Streichen der Wände übernimmt. „Und als ich mit einem grippalen Infekt das Bett hüten musste, stand Naela plötzlich vor der Tür, mit einem Teller heißer Hühnersuppe.“

Familie lebt seit drei Jahren in Wuppertal

Vor drei Jahren zieht die Familie aus Menden weg und lebt seither in Wuppertal. Sabine Sinemus rechnet damit, dass der Kontakt nach und nach abreißen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sie und die Familie telefonieren oft miteinander, besuchen sich auch gerne.

Familienvater hat sich selbstständig gemacht

Wie Sabine Sinemus erzählt, lebt die Familie seit langem ohne jegliche staatliche Unterstützung. Familienvater Mahmoud hat sich in Wuppertal mit einem kleinen Ladenlokal selbstständig gemacht, Seine Frau Naela arbeitet als Kita-Assistenz. Im Sommer beginnt sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Das Ehepaar hat Sprachkurse besucht, Naela sogar mit B2-Sprachniveau abgeschlossen. Die beiden großen Kinder – heute 15 und 17 Jahre alt – besuchen die Realschule und sind beide Klassenbeste, erzählt Sabine Sinemus. Der jüngste Sohn – mittlerweile acht Jahre alt – beeindrucke in der 2. Klasse seine Lehrerin durch seine Leistungen.

Aus dem herzlichen Miteinander ist eine intensive Freundschaft geworden und hat beinahe schon etwas Familiäres.
Sabine Sinemus

„Aus dem herzlichen Miteinander ist eine intensive Freundschaft geworden und hat beinahe schon etwas Familiäres“, sagt Sabine Sinemus dankbar. „Meine Eltern sind für die Kinder Oma und Opa und auch die räumliche Distanz hat daran nichts geändert.

Die Bereitschaft zur Integration muss natürlich da sein.
Sabine Sinemus

Was ist richtig gelaufen in dieser deutsch-syrischen Freundschaft? „Die Bereitschaft zur Integration muss natürlich da sein“, sagt Sabine Sinemus. „Ich mag das Wort ,angepasst‘ nicht, aber eigentlich stimmt es. Die Familie hat mich oft um Rat gefragt – was geht, was ist üblich in Deutschland, was nicht? Sie waren und sind einfach sehr wissbegierig.“

Wunsch nach gegenseitiger Akzeptanz

Sabine Sinemus wünscht sich gegenseitige Akzeptanz und dass auch andere Geflüchtete die Chance für den Aufbau einer Freundschaft mit Menschen, die schon länger in Deutschland leben, bekommen: „Was ich in der heutigen Zeit vermisse, ist, dass wir nicht mehr menscheln. Der Ton ist rauer geworden. Ich vermisse bei vielen Menschen die Herzenswärme.“

Finanzielle Unterstützung für Kleidung

Ihre eigenen Eltern unterstützen die Familie weiterhin zweimal im Jahr, erzählt Sabine Sinemus. „Im Frühling und im Herbst, wenn sie neue Kleidung brauchen.“ Nicht nur die syrische Familie hat von Sabine Sinemus und ihrer Familie gelernt, sondern auch die Mendenerin selbst hat etwas Grundlegendes für sich gelernt: „Ich habe gesehen, mit wie wenig materiellen Dingen man glücklich sein kann. Man braucht zum Glücklichkeit keinen Konsum.“

* Naela, Mahmoud und ihre Kinder sind damit einverstanden, dass Sabine Sinemus die Geschichte ihrer deutsch-syrischen Freundschaft erzählt, möchten aber aus persönlichen Gründen anonym bleiben.