Menden. Corona, Krieg, Inflation: Eine Krise folgt auf die nächste, das sorgt bei jungen Menschen für Probleme und „nie dagewesene Herausforderungen“.
Max* soll nach vorne kommen und am Whiteboard etwas erklären, das er gelernt hat. Er will nicht. Vor der Klasse reden und den Stoff vorbeten, den er gar nicht so wirklich verstanden hat. Ihm fällt das schwer. Alle starren ihn an. Der Druck steigt. Max wird es zu viel, seine Hände werden schwitzig. Die Wut in seinem Bauch wird immer stärker. Plötzlich brüllt er. Wie aus dem Nichts flippt er aus. Er wirft seinen Stuhl durch den Raum und verschwindet aus der Klasse.
Max gibt es nicht - und irgendwie doch. Denn solche Szenen spielen sich in den Mendener Schulen tatsächlich ab. Stühle fliegen durch den Raum, Kinder setzen sich unvermittelt unter den Tisch oder verhalten sich sehr aggressiv und beißen Mitarbeiter. Das sagt Christian Goebels. Er ist Leiter des Mendener Jugendamts. Es seien nie dagewesene Herausforderungen, mit denen die Schulen, die Schulsozialarbeiter und alle anderen Verantwortlichen seit dem Ende der Pandemie konfrontiert würden. „Es geht um Kinder, die vorher nie aufgefallen sind und sich jetzt so extrem verhalten.“ Schule könne das nicht auffangen. Dafür seien die Klassen einfach zu groß.
Eine Krise folgt auf die nächste: Corona, Kriege, Klimawandel, Inflation. Das belastet nicht nur Erwachsene, sondern auch viele Kinder und Jugendliche. Nicht zuletzt auch, weil sie den Druck, der auf ihren Eltern lastet, wahrnehmen. Die Spätfolgen der Pandemie offenbaren sich mit voller Wucht. Während einige in den Klassen rebellieren, ziehen sich andere zurück, sind in sich gekehrt und verletzen sich im Zweifel selbst. „Jungs sind eher aggressiv. Mädchen kehren ihre Probleme eher nicht nach außen und machen sie mit sich selbst aus“, sagt der Fachmann.
Einfach mal wieder tief Luft holen, doch da ist diese Enge in der Brust. So tun, als ob die Welt sich nicht dreht. Doch die Schultern fühlen sich schwer an. Eine unsichtbare Last. Das war doch früher nicht so. Was stimmt nicht mit mir?
Besonders bei den Kindern, die sich in den Eingangsstufen der weiterführenden Schulen befinden, werden die Probleme aktuell sichtbar. Sie haben in der Grundschulzeit durch den Lockdown die Vermittlung wesentlicher Werte und sozialer Kompetenzen verpasst. Nun müssen sie funktionieren in einem für sie neuen System. Doch das fällt nicht allen leicht. Kinder, deren Eltern eine „höhere soziale Kompetenz“ haben und ihre Kinder auch während des Lockdowns angemessen fördern konnten, haben diese Zeit laut Goebels tendenziell besser verkraftet. Manche hätten sogar ihre Leistungen verbessern können, da ihnen das isolierte heimische Lernen leichter gefallen sei, als im schulischen Rahmen. Doch diese Kinder bilden eher die Ausnahme.
„Es gibt auch Familien, da ist zum Teil gar nichts gelaufen.“ Eltern mit „weniger Erziehungskompetenz“, weniger Interesse oder vielen eigenen Problemen wie Drogen oder Depressionen, erklärt der Experte. Generell gebe es „erhebliche Lerndefizite“ und viele Kinder hätten soziale Kompetenzen verlernt. Wie reagiere ich in schwierigen Situationen? Wie verhalte ich mich in einer Gruppe? Und wie gehe ich eigentlich mit Gleichaltrigen um? Auch der Medienkonsum der Kinder und Jugendlichen sei extrem gestiegen. „Es gibt auch Eltern, die selbst nicht aus dem Bett kommen. Kinder haben teilweise kein Butterbrot dabei. Die Sozialarbeiter helfen dann in den Schulen aus“, erklärt Christian Goebels den Ernst der Lage.
Mama ist irgendwie traurig. Sie steht fast gar nicht mehr aus dem Bett auf. Bin ich daran schuld? Papa ist so wütend. Er schreit sie dauernd an. Sie soll sich nicht so anstellen. Neulich hat er eine Bierflasche nach ihr geworfen. Ich hatte doll Angst und habe mich in meinem Zimmer versteckt.
Kinder hätten teilweise wochenlang während des Lockdowns in kleinen Wohnungen gesessen - inklusive der alltäglichen Probleme, ohne jede soziale Kontrolle von außen. Keine Kita, keine Schule, kein Sportverein. Blaue Flecken sieht während des Lockdowns niemand. Und die seelischen Wunden, die diese Zeit hinterlassen hat, auch nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick. „Wir haben das gar nicht mitbekommen“, sagt Christian Goebels. Ihnen seien die Hände gebunden gewesen. Häusliche Gewalt hätte sich hinter verschlossenen Türen abgespielt und diese Fälle seien durch fehlende Kontrollinstanzen nicht aufgefallen.
„Es gibt arge Spannungen. Das könnte ein Indiz dafür sein, warum es gerade so extrem ist. Es ist für alle eine große Herausforderung.“ Während der Pandemie seien die Meldungen solcher Fälle um „mindestens die Hälfte“ zurückgegangen, danach stark gestiegen und nun pendle es sich wieder in „normalen Bereich“ ein. 250 solcher Meldungen gebe es in Menden durchschnittlich pro Jahr. Acht bis zehn Mitarbeiter bearbeiten diese Fälle. „Es ist eine Gratwanderung. Man schaut den Menschen nur vor den Kopf.“ Rund 25 Fälle von Inobhutnahme gebe es in Menden pro Jahr. Zum Vergleich: In Hagen seien es jährlich rund 140.
Ich schaffe es einfach nicht. Diese Matheaufgaben sind einfach zu schwierig. Mama ist ungeduldig und schreit viel. Ich hab Angst, etwas falsch zu machen. Ich sage ihr lieber nichts von meinen Hausaufgaben. Will nicht wieder ins Zimmer gesperrt werden. Scheiß Mathe! Ich habe keinen Bock mehr.
„Corona war wie ein Brandbeschleuniger. Diese Kinder sind von einer depressiven Verstimmung in eine Depression gerutscht“, sagt Christian Goebels. Sie seien hochbelastet. In solchen Fällen reiche eine Beratung durch Beratungsstellen oder Schulsozialarbeiter nicht mehr aus. „Wir sprechen von Krankheitswerten“, sagt Christian Goebels. „Diese Kinder brauchen eine ärztliche Behandlung oder einen Klinikaufenthalt.“ Doch genau da liege das Problem: Therapieplätze, vor allem stationäre, seien schwer zu bekommen, Wartelisten lang. „Diese Fälle sind wirklich sehr extrem. Elfjährige werden teilweise mit Sicherheitsdienst in die Psychiatrie gebracht. Solche Kinder wären früher langfristig in der Kinderpsychiatrie untergebracht worden.“ Heute würden sie einige Wochen stationär behandelt und dann entlassen. Kostendruck. Platzmangel.
Die Liste mit Problemen ist also lang. Doch was nun? Kinder sollen nicht stigmatisiert werden, sondern ein Angebot bekommen, das sie da abholt, wo sie sind. „Jugendhilfe muss sich in die Schule bewegen“, so der langfristig gedachte Wunsch des Experten. Durch die Zunahme von OGS-Angeboten müsse sich die Struktur ändern, Kooperationen mit Schulen seien eine Idee. Seit den Herbstferien läuft deshalb ein Pilotprojekt an einer weiterführenden Schule in Menden. Drei Integrationshelfer sind dort bis zum Sommer im Einsatz und unterstützen. Sie begleiten nicht wie sonst üblich einzelne Kinder, sondern eine ganze Stufe. Auch das Ferienprogramm der Stadt sei ausgeweitet worden, um mehr Kindern soziale Kompetenzen vermitteln zu können und ihnen einen Anlaufpunkt zu bieten. „Wir sehen auch in den Treffs die belasteten Kinder.“
Es tut gut, dass sie mir zuhören. Irgendwie verstehen sie mich. Ich bin nicht allein.
Die ambulanten Hilfen wurden aufgestockt, um mehr Kindern helfen zu können. Außerdem bekommt das Jugendamt eine neue vom Land finanzierte Stelle: Die Kinderschutzfachkraft startet bald und soll dafür sorgen, dass alle offiziellen Stellen sich besser miteinander austauschen, um Hand in Hand arbeiten zu können. „Das passiert aktuell nicht“, sagt Christian Goebels. Ein Problem sei der Datenschutz. Das soll sich in Zukunft ändern, damit schneller und besser reagiert werden kann, bevor Schlimmeres passiert.
*Max ist eine fiktive Person mit fiktiven Gedanken, die bei der Verdeutlichung des Problems helfen soll. Zum Schutz der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird auf die Nennung von Namen und Schulen von Seiten der Redaktion verzichtet.