Menden. Spontane Auswanderung: Ein Paar aus Menden soll die leiblichen Kinder der Frau ohne Okay des Vaters nach Paraguay gebracht haben. Der Prozess.
Hochemotionaler Prozess vor dem Mendener Amtsgericht. Der Saal ist so voll, wie lange nicht mehr. Angehörige und Bekannte wollen die Verhandlung verfolgen, und den Menschen in die Augen sehen, die für ihr persönliches Leid verantwortlich sind. Ein Paar aus Menden soll die leiblichen Kinder der Frau ohne das Einverständnis des leiblichen Vaters nach Paraguay gebracht haben. Das Ziel des Paares: eine spontane Auswanderung.
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Die Beiden seien mit den Coronamaßnahmen in der Heimat nicht einverstanden gewesen und wollten weg. Die Mutter steht separat vor Gericht. Heute auf der Anklagebank: Ihr 40 Jahre alter Lebensgefährte. Der Vorwurf lautet vereinfacht: Das gemeinschaftliche Entziehen zweier Minderjähriger ins Ausland ohne Einverständnis des Vaters sowie das Verletzen der Fürsorgepflicht. Dazu soll er die Gefahr der erheblichen Schädigung der Kinder verursacht haben – da die Kinder sprachunkundig waren und durch die illegale Einreise nicht zur Schule gehen konnten.
Zwei Monate illegal in Paraguay
Aber von vorn. Es ist Sonntag, der 22. August 2021. Das Land NRW hat zwei Tage zuvor die neue Version der Coronaschutzverordnung bekanntgegeben. „Von den bisherigen Schutzmaßnahmen verbleiben nur noch eine verbindliche Maskenpflicht in Innenräumen und an anderen infektionskritischen Orten sowie für nicht geimpfte oder genesene Personen bei Veranstaltungen in Innenräumen eine Testpflicht“, heißt es darin. Sprich Lockerungen für Geimpfte und Genesene. In Menden gibt es bis dato 55 Corona-Tote. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 68,4. Der Angeklagte und seine Lebensgefährtin leben gemeinsam in Menden und entscheiden zusammen, ohne große Vorplanung nach Paraguay auszuwandern – gemeinsam mit den Kindern der Frau. Über Frankfurt fliegen sie nach Brasilien und dann nach Paraguay. Also in jenes lateinamerikanische Land, das Schlagzeilen machte, weil eine Vielzahl ungeimpfter Deutscher dort ihren Traum von der Impffreiheit leben wollten.
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Die Mädchen, heute sieben und zehn Jahre alt, leben eigentlich im Wechsel bei der Mutter und beim leiblichen Vater. Schon vor dem Aufbruch nach Lateinamerika wurde angeblich deutlich, dass das angeklagte Paar mit den Coronaschutz-Maßnahmen seit einem längeren Zeitraum nicht einverstanden war und diese abgelehnte. Die Kinder seien nach den Sommerferien nicht in der Schule erschienen. In Paraguay lebten sie vom 22. August bis zum 23. Oktober 2021. Rückholversuche des Vaters scheitern zunächst. Der Vater beantragt das alleinige Sorgerecht und erhält es auch. Auch über deutsche Beamte vor Ort hat er keinen Erfolg. Der Kontakt bricht ab. Nichts passiert. Erst ein internationaler Haftbefehl gegen die Mutter sorgt fürs Einlenken: Das Paar fliegt zurück nach Deutschland.
Emotionale Schäden erlitten
Vor Gericht wirkt der Angeklagte zurückhaltend. Während die Staatsanwältin die Vorwürfe ausführt, blickt er nach unten. Haare hängen tief in sein Gesicht. Nur vereinzelt erwidert er die Blicke des Nebenklägers, dem Vater der Kinder, und des Publikums. Er redet kaum, lässt alles über seinen Anwalt laufen. Sein Mandant, eigentlich Coach, sei frisch als Bauhelfer tätig und mit der Mutter der Kinder mittlerweile verlobt. Der Prozess stehe wie ein „Elefant im Raum“, eine Einigung wäre dem Mann ohne Vorstrafen lieb. Dafür stellt er ein vollumfängliches Geständnis in Aussicht. Die Nebenklage ist für Gespräche offen, macht aber deutlich: „Mein Mandant hat nicht nur eine finanzielle , sondern auch eine emotionale Schädigung erlitten.“ Man dürfe nicht vergessen, dass die Kinder ins außereuropäische Ausland gebracht worden seien – mitten in einer globalen Pandemie.
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Mehrere Unterbrechungen folgen, bevor Richter Jung vor dem Jugendschöffengericht im Namen aller Parteien eine Einigung verkünden kann – wie auch schon im Fall der arbeitssuchenden Mutter. Sie wurde im Mai verurteilt zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Gericht wertet das Geständnis zugunsten des Angeklagten. Er bekommt eine Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr und fünf Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Außerdem soll er 1500 Euro in Raten an die Lebenshilfe zahlen.
Der Richter findet bei der Verkündung deutliche Worte: Die gemeinsame Weltanschauung des Paares habe letztendlich zum illegalen Status der Kinder in Paraguay geführt. Erst der internationale Haftbefehl habe die Beiden dazu gebracht, ihre Lebensplanung aufzugeben. „Das effektive Einschreiten des Staates hat fühlbar gemacht, dass es so nicht geht“, sagt er. „Kinder sind das höchste Gut, das es zu beschützen und zu stärken gilt. Das ist jetzt hoffentlich gelungen.“
Rechtsmittel sind ausgeschlossen.
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Zum Hintergrund
Paraguay: Das Land der Impffreiheit? Paraguay liegt zwischen Argentinien, Brasilien und Bolivien. Die Hauptstadt heißt Asunción, Landessprache ist Spanisch. Das Land ist nicht erst seit Ausbruch der Pandemie ein beliebt bei deutschen Auswanderern. Beispielsweise die Stadt Hohenau wurde 1900 von Deutschen gegründet. Paraguay bot viele Möglichkeiten: Ein großes, unterbevölkertes Land mit sehr fruchtbaren Böden und niedrigen Preisen. Nach dem Krieg flohen Nazis hierher. Bekanntester Bewohner Hohenaus damals: Auschwitz-Arzt Josef Mengele. Seit den 1970er-Jahren kamen viele aus wirtschaftlichen Gründen, da es dort keine Einkommenssteuer gibt.
2021 hat sich die Zahl der Einwanderer gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt. Es gab viel Kritik daran, dass die Regierung in Asunción keinen Impfnachweis von Einreisenden verlangte. Auch über den Messenger Telegram tauschten sich viele Deutsche-Impfgegner über ihre Paraguay-Pläne aus. Am 12. Januar 2022 trat ein neues Gesetz in Kraft, dass Einreisenden ohne permanentes Bleiberecht – und über das verfügen Neuankömmlinge in der Regel nicht – mindestens zweimal geimpft sein müssen.