Menden. Warum und wie werden psychisch kranke Menschen zu Straftätern? Und wie kann man ihnen helfen? Ein Interview mit Prof. Dr. Boris Schiffer.
Wenn psychisch kranke Menschen eine Straftat begehen, erregt das wie im Falle des Machetenmordes in Menden die Gemüter. Der Prozess gegen den 28-Jährigen, der seine Mutter getötet haben soll, läuft derzeit vor dem Landgericht Arnsberg. Am nächsten Verhandlungstag – Montag, 16. Dezember – soll ein psychiatrischer Gutachter gehört werden. Doch was treibt diese Menschen zu ihren Taten? Im Gespräch schildert Prof. Dr. Boris Schiffer, Therapeutischer Direkter der LWL-Maßregelvollzugsklinik Herne und Dozent für Forensische Psychiatrie an der Ruhr Uni Bochum, Gründe für die Ausnahmesituationen und wie man Anzeichen einer psychischen Erkrankung erkennen kann.
Herr Prof. Dr. Schiffer, psychische Erkrankungen sind noch immer ein gesellschaftliches Stigma. Warum?
Prof. Dr. Schiffer: (lacht) Gute Frage. Es gibt ja eine ganze Reihe von Initiativen der Berufsverbände, allen voran der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, etwas gegen die Stigmatisierung zu tun. Ich finde auch, es hat sich an der Stelle schon einiges verbessert, aber die Angst der Betroffenen vor Zurückweisung und Ausgrenzung ist natürlich nach wie vor hoch und ist natürlich auch eine enorme Belastung für die Menschen – und natürlich etwas, was sich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken kann. Es hat sicherlich viel mit der Angst der Bevölkerung vor psychischen Erkrankungen zu tun. Es geistert ja auch gerne durch die Medien, dass psychisch Kranke gefährlich seien, was natürlich so nicht stimmt. Aber das ist sozusagen ein Vorurteil, das sich hält. Dazu kommt, dass psychisch Kranken leider häufig ein Label von schwach oder minderwertig angeheftet wird.
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Was sind denn die konkreten Auslöser für Psychosen oder wahnhafte Episoden und wie äußern diese sich in der Krankheit?
Das ist ganz unterschiedlich und kann man nicht in einem Satz beantworten, weil Psychosen erstmal ein Symptom verschiedener psychischer Erkrankungen darstellen. Es gibt die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Psychosen. Das, was die meisten Menschen darunter verstehen, würde man in dem Bereich der primären Psychosen verorten, das sind Störungen wie die Schizophrenie oder schizo-affektive Störungen oder anhaltend-wahnhafte Störungen. Auch können psychotische Symptome – insbesondere Wahnvorstellungen und Halluzinationen – bei schweren Depressionen oder im Rahmen von Demenzerkrankungen auftreten. Wie das genau zustande kommt, wissen wir bis heute nicht. Es gibt ein sogenanntes Vulnerabilitäts-Stressmodell, das die Entstehungen der primären Psychosen erklären soll. Da spielen genetische, epigenetische und Umweltprozesse im komplexen Zusammenspiel eine Rolle, die den Gehirnstoffwechsel verändern und damit eben zu einer Veränderung der Informationsverarbeitung führen. Womit das Kernproblem bei psychotischen Erkrankungen beschrieben werden kann. Und dann gibt es im Rahmen von organischen Erkrankungen, also bei einer Epilepsie oder Hirntumoren oder bestimmten Stoffwechselerkrankungen, durchaus psychotische Phänomene. Aber es gibt natürlich auch die drogeninduzierten Psychosen.
Damit wären wir direkt beim nächsten Punkt: Solche Krankheitsverläufe können in Zusammenspiel mit Drogenkonsum in Doppeldiagnosen auftreten.
Erstmal muss man sagen, dass die Komorbidität – Psychose und Sucht – ausgesprochen häufig ist. In der forensischen Psychiatrie sogar noch häufiger als in der Gemeindepsychiatrie. Man kann sagen, dass wir bei der Erstmanifestation, also wenn es das erste Mal zu einem psychotischen Erleben kommt, beispielsweise im Rahmen einer Schizophrenie, ein Drittel der Patienten mit einer komorbiden Suchtentwicklung haben. Man weiß ja auch, dass Cannabis-Konsumenten ein dreifach erhöhtes Psychoserisiko aufweisen. Dann kommt es bei psychischen Störungen häufig dazu, dass Patienten versuchen, sich selbst zu medizieren, indem sie Substanzen nehmen. Das ist zum Beispiel Cannabis, um sich zu beruhigen. Bei Psychosen kann der vorherige Konsum aber auch eine Auslösefunktion haben, als Stressor für den Körper, der bei einer entsprechenden Vulnerabilität, also genetischen Veranlagung, den Ausbruch einer Schizophrenie triggern kann.
Abteilungsprofessur an der Ruhr Uni Bochum
Prof. Dr. Boris Schiffer hat eine Abteilungsprofessur für forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruhr Universität Bochum (RuB) inne. Die Stelle ist vor zwei Wochen neu geschaffen worden.
Seit sieben Jahren unterrichtet und forscht Boris Schiffer inzwischen an der RuB in diesem Themenfeld.
Zuvor arbeitete Schiffer zehn Jahre an der Uni Duisburg-Essen. Boris Schiffer ist 44 Jahre alt und leitet die LWL-Maßregelvollzugsklinik Herne.
Wir sprechen da also nur von einer genetischen Vorbelastung, wo diese Symptome akut werden?
Bei Schizophrenie als dem Hauptvertreter der psychotischen Störungen geht man davon aus, dass der Konsum psychotroper Substanzen wie Cannabis oder Amphetaminen eine Trigger-Funktion auslösen kann – auf dem Boden einer gewissen Anfälligkeit, die meistens genetischer Natur ist. Aber so ganz genau kennen wir die Mechanismen bis heute nicht. Im Verlauf einer solchen Erkrankungen konsumieren auch noch mehr Patienten regelmäßig Drogen, sodass man sagen kann, dass etwa die Hälfte aller schizophrenen Patienten gleichzeitig eine komorbide Suchterkrankung haben. In der forensischen Psychiatrie bei den psychotischen Patienten sind das sogar bis zu 80 Prozent.
Wie äußern sich denn solche Veränderungen im Alltag? Wie kann ich reagieren, wenn ich im Freundes- oder Familienkreis jemanden habe, der betroffen ist?
Diese psychotischen Erlebnisweisen kommen nicht von heute auf morgen, sondern sie entwickeln sich langsam. Am Anfang sind die Symptome, die Patienten zeigen, relativ unspezifisch. Die sind gekennzeichnet durch Interessenverlust, sozialen Rückzug, Reizbarkeit, Überempfindlichkeit. Bei Kindern etwa, die später an Schizophrenie erkranken, hat man auch erkannt, dass es Defizite in der Sprachentwicklung gab, auch bestimmte leichte motorische Störungen, Aufmerksamkeitsprobleme, Stimmungsschwankungen – das führt gerade bei Kindern oft zu Fehldiagnosen, zum Beispiel ADHS. Und da ist es wichtig, dass man solche Auffälligkeiten erkennt und zum Thema macht – insbesondere sozialer Rückzug, der dann zu Problemen in der Schule, Ausbildung oder Studium führt. Das ist häufig die Phase, in der Patienten die Wahrnehmung haben, dass seltsame Dinge passieren, die sie sich erstmal nicht erklären können. Das ist das Wesen des Wahns. Die Patienten entwickeln eine eigene Realitätskonstruktion, um mit der Unsicherheit, die sie erleben, klarzukommen. Das ist eine Phase, in der man psychotherapeutisch noch gut intervenieren kann. Je chronifizierter ein solch psychotisches Erleben ist, umso schwieriger ist es, dort noch therapeutisch ranzukommen. Das ist für die Patienten subjektive Realität. Es werden dann nur Informationen verarbeitet, die den Wahn bestätigen und Dinge, die dem widersprechen, werden umgedeutet. Es kommt zu keiner Veränderung der eigenen Überzeugung.
Also so, dass es für einen selbst dann alles Sinn ergibt, was sich im Wahn abspielt?
Genau. Wenn das System chronifiziert, ist es enorm schwierig, psychotherapeutisch ranzukommen und auch mithilfe von Medikamenten ist es dann schwierig. Deshalb ist die Empfehlung auch, wenn solche Probleme erkannt werden, möglichst schnell eine geeignete Behandlung zu starten.
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Wo liegen die Schwierigkeiten und Gefahren, wenn die Psychose oder der Wahn zur Wirklichkeit wird – und wie verhalte ich mich als Angehöriger?
Man kann auf jeden Fall sagen, dass die überwiegende Mehrzahl – auch der schizophren erkrankten Patienten – keine Gefahr darstellen für andere Menschen. Klar, sie haben ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko, delinquentes Verhalten zu zeigen und auch gewalttätiges Verhalten zu zeigen. Es ist aber trotzdem nur eine ganz kleine Minderheit der schizophrenen Patienten. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Wahn einen Inhalt hat, der mit einer gefühlten Bedrohungslage für den Betroffenen einher geht.
Wenn sie (die Patienten) sich eingeengt fühlen?
Wenn sie etwa die Idee entwickeln: Der Nachbar führt irgendetwas Böses im Schilde oder ist der leibhaftige Teufel – das hört man auch häufig. Es entwickelt sich eine konkrete Vorstellung dessen, wie dieses „Böse“ aussieht, und, was diese Person in der Zukunft gegen den Betroffenen oder andere zu tun gedenkt. Wenn also aus dieser subjektiv empfundenen Bedrohung ein Impuls erwächst, diesem vorzubeugen. Dann kann es passieren, dass eine Bedrohungslage – die natürlich objektiv gar nicht da ist – von einem psychotisch erkrankten Menschen aufagiert wird, wenn die andere Person dann attackiert wird, um eben den Schaden von sich selbst oder anderen abzuhalten. Der Betroffene hat das Gefühl, um Schlimmeres zu vermeiden, jetzt selbst eine Straftat begehen zu müssen.
Die Menschen sind in solche Ausnahmesituationen eigentlich nie Herr ihrer Sinne. Angenommen eine psychische Erkrankung führt zu einer Straftat: Wie läuft die Behandlung in einer forensischen Klinik ab?
Der Auftrag einer forensischen Klinik ist zweiteilig: Es geht einmal um den Schutz der Allgemeinheit vor dauerhaft psychisch kranken Straftätern. Zum anderen geht es um die Reduzierung der Gefährlichkeit dieser Menschen, also die gezielte Behandlung der Krankheits- oder Persönlichkeitsmerkmale, die mit einer überdauernden Gefährlichkeit einhergehen. Das heißt, es ist anders als in der allgemeinen Psychiatrie oder ambulanten Psychotherapie, wo Patienten hinkommen, die ein psychisches Problem haben und Hilfe benötigen. Das Problem bei uns ist von Richterseite vorgegeben: nämlich die Gefährlichkeitsreduktion. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir nicht allgemein psychische Störungen behandeln, sondern die Aspekte, die mit Gefährlichkeit einhergehen. Wir müssen uns erst einmal genau damit beschäftigen, warum diese Person eine Straftat begangen hat. Was waren die Faktoren in der Situation, die zum Tatgeschehen geführt haben? Und wenn wir das verstanden haben, bilden sich sogenannte kriminogene Merkmale heraus, die ins Zentrum der Behandlung gerückt werden. Im Rahmen von psychotischen Störungen ist das natürlich die Psychose selbst. Bei persönlichkeitsgestörten Menschen, die Gewalttaten begehen und keine Realitätsverzerrung aufweisen, geht es häufig um sehr viel schwierigere Dinge. Bei psychotischen Störungen geht es um die Behandlung der Primärkrankheit, also der Schizophrenie. Es geht darum, den Patienten auf den Boden der Realität zurückzuholen.
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Das klingt nach einer recht langwierigen Phase. Ist eine Rehabilitation oder Resozialisierung von psychisch kranken Straftätern überhaupt möglich?
Ganz klar ja. Das zeigen auch die Rückfallstatistiken. Patienten, die im Maßregelvollzug behandelt werden, sind alle bei ihrer Einweisung als hoch rückfallgefährdet eingestuft, sonst würden sie nicht in einer solchen Klinik landen. Das ist ja eine Eingangsvoraussetzung. Gerade im Bereich der psychotischen Patienten weisen sie jedoch nach der Entlassung sehr geringe Rückfallraten auf. Wenn Sie sehen, wie die Rückfallraten von Strafgefangenen aus Justizvollzugsanstalten ausfallen, dann leistet der Maßregelvollzug auf jeden Fall einen enormen Beitrag zur Deliktprävention bei psychisch kranken Rechtsbrechern. Eine Rehabilitation ist möglich, es ist aber die Frage: Wieviel Unterstützung benötigen sie weiterhin? Sind sie in der Lage, nach dem Maßregelvollzug wieder ein normales Leben zu führen? Und genau das ist in der Regel nicht so, muss man sagen. Die Patienten, die zu uns kommen, weisen einen sehr hohen Chronifizierungsgrad auf. Es sind eben ganz selten Patienten, die vorher noch nicht in der Allgemeinpsychiatrie behandelt wurden. In der Regel sind es Menschen, die schon mehrere stationäre Aufenthalte hatten, aber wenig Krankheitseinsicht entwickeln konnten und eben nicht die ihnen verordneten Medikamente eingenommen haben. Das macht es uns umso schwieriger: Je stärker der Chronifizierungsgrad, desto schlechter ist die Behandlungsprognose. Dann müssen wir dafür sorgen, dass die Patienten so gebessert werden, dass sie in einem strukturierten, gemeindenahen psychiatrischen Versorgungssystem, wie etwa einem betreuten Wohnheim, unterkommen können und dort keine Gefahr mehr von ihnen für andere ausgeht. Das ist das Ziel.
Und wie sieht das bei Menschen aus, die direkt beim ersten psychotischen Schub eine Straftat begehen?
Wir haben natürlich auch Patienten, die tatsächlich im Rahmen der ersten Erkrankungsepisode Straftaten begangen haben. Das sind Patienten, die wir in der Regel sehr gut, sehr schnell und auf altem Funktionsniveau entlassen können. Wir haben Patienten, die hier das Abitur gemacht haben; die nach der Entlassung ein Studium aufgenommen und abgeschlossen haben. Das sind aber leider Ausnahmefälle. Die Mehrheit dieser Patientengruppe ist sehr, sehr krank und chronifiziert in das System hineingekommen.
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Das heißt, je früher man eingreifen und helfen kann, desto besser sind die Aussichten.
Genau. Es ist leider eine Entwicklung der Allgemeinpsychiatrie, dass sich immer mehr in Richtung forensische Psychiatrie verlagert, weil die Stärkung der Patientenrechte durch das Bundesverfassungsgericht dazu geführt hat, dass Patienten – die nicht in der Lage sind einzusehen, dass sie eine Behandlung brauchen – auch nicht dazu gezwungen werden können, sich behandeln zu lassen. Das Psychisch-Kranken-Gesetz ist so gestrickt, dass eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung da sein muss, um Patienten auch gegen ihren Willen zu behandeln. Und wenn das nicht mehr attestiert werden kann, können sie sich freiwillig entlassen aus den Einrichtungen. Das führt bei Patienten, die nicht krankheitseinsichtig sind, zu einer Chronifizierung und dann in manchen Fällen leider zu Straftaten, die sie in die Forensik bringen.
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