Kreis Olpe. Kinder aus Wohngruppen kämpfen oft ein Leben lang gegen heftige Vorurteile an – doch die Realität sieht im Kreis Olpe anders aus.
„Ich habe wenigstens Eltern, die mich lieben. Da, wo du wohnst, sind die doch eh alle assi“, wirft ein Mitschüler Noah (Name von der Redaktion geändert) auf dem Schulhof an den Kopf. Mobbing, das Noah viel zu oft abbekommt. Denn der Zwölfjährige lebt tatsächlich nicht mehr bei seinen Eltern, sondern in einer Wohngruppe im GFO-Josefshaus, der stationären Kinder- und Jugendhilfe des Kreises Olpe. Im Kinderheim, würden manche sagen. „Ich setze das Wort Kinderheim immer in Anführungszeichen, wenn ich es benutze. Denn das ruft bei den meisten ein sehr negatives Bild hervor“, erklärt Steffy Hilbig. Sie ist die Sozialarbeiterin von Noah.
„Eltern nicht ersetzen, sondern sie unterstützen“
Nach dem Vorfall sprach die 34-Jährige aus Drolshagen mit der Schule und gemeinsam beschlossen sie, Noahs Klasse in die Kinder- und Jugendhilfe einzuladen. Der Junge stellte ihnen sein Zuhause, die neunköpfige Wohngruppe, vor. Strukturierte Tagesabläufe, Regeln, ein eigenes Kinderzimmer und vor allem Erwachsene, die für die Kinder da sind. Die Frage, ob in der Wohngruppe denn noch ein Zimmer frei sei, hört Steffy Hilbig nach solchen Aufklärungsgesprächen mit Schulklassen oft.
Das Josefshaus der GFO (Gemeinnützige Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe) will Kindern und Jugendlichen emotionale und soziale Stabilität bieten, die manche Eltern ihrem Nachwuchs in einer bestimmten Lebensphase aus verschiedensten Gründen gerade nicht geben können. Nach eigenen Angaben leben dort derzeit rund 200 Kinder und junge Erwachsene im Alter von sechs bis 21 Jahren in Wohngruppen zusammen. „Oft können die Eltern nichts für ihre Situation, die Kinder schon gar nicht“, sagt Steffy Hilbig. „Wenn die Kinder zu uns kommen, weil ihr Wohl gefährdet ist, haben sie oft viel nachzuholen und sind in ihrem Bindungsverhalten erst einmal auffällig.“
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Schicksalsschläge, körperliche und psychische Krankheiten, fehlender familiärer Rückhalt sowie Überforderung seien oft die Hintergründe bei den Eltern. Härtefälle von Missbrauch, grober Vernachlässigung und unbegleiteter Flucht gebe es natürlich auch, seien aber ihrer Erfahrung nach bei weitem nicht die Regel, erzählt sie. Dennoch nehme jedes Kind das eigene Schicksal als das Schlimmste wahr, die (teils) vorübergehende Trennung von den Eltern schüre zunächst die größte Urangst, verlassen zu werden: „Es geht nicht darum, die Eltern als Bezugspersonen zu ersetzen, sondern sie zu unterstützen“, erklärt Steffy Hilbig. „Manchmal klappt es im Familienalltag nicht mehr, aber durch die größere Distanz kann die Wohngruppe zu einem Puffer zwischen Eltern und Kind werden“, sagt sie. In der Regel hätten die Kinder weiterhin regelmäßigen Kontakt zu ihren Familien und stünden ihren Eltern trotz aller Konflikte loyal gegenüber.
Besondere Nähe zu den Schicksalen der Kinder
Steffy Hilbig arbeitet seit 13 Jahren in der stationären Kinder- und Jugendhilfe in Olpe, mittlerweile als stellvertretende Gruppenleiterin. Sie ist gelernte Kinderpflegerin, staatlich anerkannte Erzieherin und studierte Sozialarbeiterin. Was sie in ihrer Arbeit antreibt, ist die Nähe zu den Schicksalen der Kinder: „Ich platze vor Glück, wenn ein Kind den Schulabschluss schafft“, erzählt sie mit strahlenden Augen. Mit dem in ihrem Job üblichen Schichtdienst hat sie kein Problem: „Ich liebe Nachtschichten. Abends kommen wir alle zur Ruhe, dann lese ich gerne was vor. Wenn sich ein Kind in meinen Arm kuschelt und einschläft, ist das einfach ein Moment, der Gold wert ist.“ Gleichzeitig ist es gerade die enge Beziehung zu den Kindern, die für sie persönlich manchmal belastend sein kann: „Ich kann schon mal nicht schlafen, weil ich mir solche Sorgen um ein Kind mache.“
Aufklären und Wissen weitergeben
Kinder aus Wohngruppen sind in der weiterführenden Schule, aber auch danach oft mit heftigen Vorurteilen und Mobbing konfrontiert. Oft fehlt es an Wissen über die tatsächlichen Lebensumstände in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Die negative Assoziation mit Kinderheimen sei trotz vieler Reformen und tiefgreifenden Veränderungen in den Einrichtungen auch heute noch tief in den Köpfen vieler Menschen verankert.
Steffy Hilbig wünscht sich daher, dass „Kinder nicht auf eine Situation reduziert werden, für die sie nichts können.“ Mehr Aufklärungsarbeit in Schulen, bei Eltern und bei Kindern sei dringend nötig. Das gelte auch innerhalb des Berufs: „In der Ausbildung fiel der Satz, dass wir uns nachts schon mal besser einschließen sollten, so gefährlich seien die Kinder“, erzählt die Sozialarbeiterin. Ein Schreckensszenario, das ein absoluter Ausnahmefall und in ihren 13 Jahren im Josefshaus noch nie vorgekommen sei.
Mit ihrem neuen Buch „Pass bloß auf, sonst kommst du ins Heim!“ will Steffy Hilbig das Thema in die Öffentlichkeit bringen und Kindern aus Wohngruppen eine Stimme geben. Bewusst in einfacher Sprache geschrieben, möchte sie das Buch leicht zugänglich machen. Das Buch ist in einigen Buchläden im Kreis Olpe und online erhältlich.
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Kinder- und Jugendhilfe im Kreis Olpe
Im Kreis Olpe gibt es derzeit knapp 300 Plätze in der stationäre Kinder- und Jugendhilfe. Letztes Jahr zahlte der Kreis Olpe nach eigenen Angaben insgesamt 11,7 Millionen Euro für Unterkunft, Betreuung und Lebenshaltenskosten der Kinder und jungen Erwachsenen. Betroffene Eltern, die Hilfe suchen, können mit dem zuständigen Jugendamt oder dem GFO-Josefshaus der stationären Kinder- und Jugendhilfe in Olpe in Kontakt treten.