Olpe/Köln/Ravensbrück. Stephan Schlössers Recherchen enthüllen tragische Biographie des ersten aus Olpe stammenden Nazi-Opfer, das in einem KZ ums Leben kam.

Die weitverzweigte Familie Bonzel, die in Olpe Fabrikanten, Ärzte und nicht zuletzt die Gründerin des Ordens der Olper Franziskanerinnen hervorgebracht hat, ist ein Thema, das Dr. Stephan Schlösser schon lange beschäftigt. Der pensionierte Mediziner, aus Drolshagen stammend, inzwischen in Olpe lebend und viele Jahre in Bochum am renommierten Krankenhaus Bergmannsheil tätig, ist begeistert von Geschichte, was unter anderem die Tatsache beweist, dass er schon viele Jahre den Vorsitz des Drolshagener Heimatvereins innehat.

Bei der Suche nach Nachkommen eines von Drolshagen nach Lille ausgewanderten Mitglieds der Familie Bonzel fand Dr. Stephan Schlösser eine Akte aus dem Rathaus der Gemeinde Beaulieu-sur-mer, einem Ort an der Côte d’Azur zwischen Monaco und Nizza. Es war die Heiratsakte, die die Hochzeit einer Maria Emilie Bonzel aus Olpe mit Alfred Lichtenstein aus Köln dokumentiert. Beide waren Stephan Schlösser völlig unbekannt. Daher wurde er umso neugieriger und begann eine akribische Nachforschung auf Grundlage dieser Urkunde vom 19. April 1938: Eine Olperin, Mitglied einer bekannten katholischen Familie, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Frankreich einen Mann heiratet, dessen Name vermuten lässt, dass er jüdischen Glaubens ist? Schlösser forschte ein Jahr lang und erstellte eine Biografie, die unter die Haut geht. Denn Mia Bonzel verheiratete Lichtenstein ist die bislang einzige aus Olpe stammende Frau, von der bekannt ist, dass sie in einem Konzentrationslager der Nazis ihr tragisches Ende fand. Ihr einziges „Vergehen“: Sie liebte einen Juden.

Dr. Stephan Schlösser hat die Geschichte von Mia Bonzel vor dem Vergessen bewahrt.
Dr. Stephan Schlösser hat die Geschichte von Mia Bonzel vor dem Vergessen bewahrt. © archiv | ARCHIV

Maria Emilie Bonzel, so der volle Name, ist eine nahe Verwandte von Ordensgründerin Maria Theresia „Aline“ Bonzel. Mia, wie sie stets genannt wurde, erblickte das Licht der Welt im Jahr 1896, und zwar im Haus Frankfurter Straße 22, dem damaligen Hotel „Zur Post“. 1945 traf eine Luftmine der Alliierten das stolze Gebäude, heute steht hier die ehemalige Volksbank-Hauptstelle. Als Aline Bonzel 1905 starb, gehörte die siebenjährige Mia zur Trauergemeinde. Mia Bonzel besuchte das Lyzeum in Olpe, zog danach für ein halbes Jahr nach Remagen, um Haushaltsführung zu lernen, und führte dann in Wiesbaden den Haushalt einer alleinstehenden Dame. Ihre erste Ehe mit Max Buchholz aus Brühl bei Köln endete in einer Scheidung: Das Gericht sah die Schuld beim Ehemann, der seine Frau mehrfach betrogen haben soll. Danach lernte Mia Bonzel den ein Jahr zuvor verwitweten Alfred Lichtenstein kennen, mit dem sie ab 1934 fest zusammen war.

Alfred Lichtenstein

Alfred Lichtenstein wurde 1886 in Köln geboren und entstammte einer jüdischen Familie, die in der Textilbranche tätig und reich war. Wie so viele andere jüdische Unternehmer, wurde auch die Familie Lichtenstein unter dem Vorwand der „Arisierung“ nach der Machtergreifung der Nazis um Geld und Eigentum gebracht und verjagt. Alfred Lichtenstein war allerdings nie in die Firma eingestiegen, sondern hatte als Kaufmann und selbstständiger Handelsvertreter gearbeitet, unter anderem vier Jahre in den USA. Hier hatte er auch 1909 die erste von insgesamt drei Ehen geschlossen. Die 1938 mit Mia Bonzel war die dritte, nachdem Alfred Lichtenstein 1933 verwitwet war. In heute noch erhaltenen Briefen wird deutlich, wie sehr sich die urkatholische Familie Bonzel Sorgen machte, denn die Liaison mit einem Juden war nach der Machtergreifung der Nazis ein erkennbares Risiko. Antijüdische oder antisemitische Äußerungen finden sich in den Briefen freilich nicht – einzig die Sorge um Mias Wohlergehen und die Reputation der Familie ist insbesondere für ihren Bruder Karl Grund zur Kritik. „Ich folge einem einfachen Drange meines Herzens“, schreibt Mia Bonzel ihrem besorgten Bruder. Aus einem Brief der Mutter indes geht hervor, dass diese die Tatsache, dass ihre Tochter mit einem Juden zusammenlebte, als unerhört erachtete.

1935 verließen Alfred Lichtenstein und Mia Bonzel Deutschland für eine Urlaubsreise in die Schweiz. Kaum ausgereist, traten die Rassengesetze in Kraft, die ihnen eine Rückkehr praktisch unmöglich machten: Mia hätte sich durch das Zusammenleben mit einem Juden der „Rassenschande“ schuldig gemacht. Das Paar blieb bis Sommer 1936 in der Schweiz und zog, als die Aufenthaltsgenehmigung ablief, weiter nach Italien. Doch das Geld ging aus, Alfred Lichtenstein landete wegen unbezahlter Rechnungen im Gefängnis, aus dem ihn sein Sohn aus zweiter Ehe durch den Verkauf einer wertvollen Leica-Kamera auslöste. Ihr weiterer Weg führte sie nach Frankreich, wo sie 1938 heirateten.

Hier stand bis 1945 das Hotel „Zur Post“. Es war das Elternhaus von Mia Bonzel und erhielt bei der Bombardierung der Stadt einen Volltreffer.
Hier stand bis 1945 das Hotel „Zur Post“. Es war das Elternhaus von Mia Bonzel und erhielt bei der Bombardierung der Stadt einen Volltreffer. © Jörg Winkel | Jörg Winkel

Bis heute erhaltene Briefe lassen nachvollziehen, wie das jungvermählte Paar verzweifelt versuchte, in die USA auszureisen. Tragische Konstellationen verhinderten dies. Die Visa liefen ab, weil ein Termin mit dem amerikanischen Konsulat geplatzt war, und so verfiel eine bereits gebuchte Schiffspassage, und schließlich lief auch die Aufenthaltsgenehmigung ab. Ihnen drohte Abschiebehaft. 1940 dann wurde das Ehepaar Lichtenstein in Nizza verhaftet. Elf Monate später wurde Mia Lichtenstein wieder entlassen, Alfred Lichtenstein indes im Männerlager Les Milles bei Aix-en-Provence interniert. Hier saßen auch Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Golo Mann oder Walter Hasenclever ein. Feuchtwanger schrieb über die menschenunwürdigen Umstände in der zum Lager umgenutzten alten Ziegelei in seinem Buch „Der Teufel in Frankreich“.

Indes verlor Alfred Lichtenstein die Hoffnung nicht, insbesondere, als 1941 die Vichy-Regierung die Voraussetzungen lockerte, um doch eine Ausreise in die USA zu ermöglichen. Doch wieder gingen Papiere verloren, wieder liefen Visa ab, ein ewiges Auf und Ab zwischen Hoffen und Bangen endet 1942 mit der Deportation von Alfred Lichtenstein nach Auschwitz. Bis dahin wohnte Mia Lichtenstein in Aix-en-Provence und ging täglich die sieben Kilometer, um ihren Mann im Lager zu besuchen.

Möge diese Veröffentlichung ihrem Gedenken dienen.
Dr. Stephan Schlösser - Heimatforscher

Am 19. August 1942, dem Tag seiner Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wurde Alfred Lichtenstein wie fast alle der Ankömmlinge ermordet. Er war 56 Jahre alt. Über die letzten gemeinsamen Tage des Ehepaars Lichtenstein ist nichts bekannt. Aktenkundig ist aber, dass Mia Lichtenstein drei Monate später, am 12. November 1942, in Saarbrücken inhaftiert wurde: Sie war bei der Rückreise von Frankreich nach Deutschland von der Polizei festgenommen worden. Der Vorwurf: Rassenschande. Laut Aktenlage hat am 23. Februar 1943 ein Schwager als letzter Verwandter Mia Lichtenstein lebend gesehen.

Entlassung gestoppt

Einen Monat später entschied der Oberstaatsanwalt, die gebürtige Olperin sei wegen einer schweren Erkankung der Mutter sofort zu entlassen, doch auf demselben Blatt ist handschriftlich vermerkt, die Entlassung sei gestoppt worden, Mia Lichtenstein bleibe in Haft. Wie aus Briefen von Mia Lichtenstein an ihre Geschwister hervorgeht, hatte sie lange Zeit Hoffnung, freizukommen, doch die Gestapo nutzte das Mittel der „Schutzhaft“, sie ohne Anklagen oder andere Vorwände in Haft zu behalten. Am 7. Juli 1943 erfolgte ihre Überstellung ins Konzentrationslager Ravensbrück. Auf dem letzten Satz der Gefängnisakte nur ein Satz: „Hat in Frankreich Juden geheiratet.“

Erschütternde Dokumente

Sieben Briefe aus dem KZ an ihre Geschwister sind erhalten – erschütternde Dokumente, die trotz Zensur und Schwärzungen ahnen lassen, wie das Leben unter menschenunwürdigen Umständen und im steten Angesicht des Todes die eigentlich so lebensfrohe Mia Lichtenstein gebrochen hat. Die Aufzeichnungen enden im Juli 1944, und Dr. Stephan Schlösser vermutet, dass die Frau aus Olpe zeitnah nach ihrem letzten Brief Ende Juli/Anfang August 1944 den Tod fand – ob durch von den Schergen in Kauf genommene Krankheiten, durch Entkräftung oder durch aktive Ermordung bleibt wohl für immer ungeklärt. Ihre Familie wurde nie über ihren Tod informiert, und zu den von den Nazis in den letzten Kriegstagen vernichteten Unterlagen gehören auch die über Mia Lichtenstein.

Für tot erklärt wurde sie zweimal: zunächst 1983 vom Amtsgericht Königswinter, wo ihre letzte offizielle Wohnadresse vor ihrem Umzug nach Köln war. Allerdings war sie bei diesem Gericht noch als „Maria Emilie Buchholz geborene Bonzel“ geführt. Die Ehe mit Alfred war dem Gericht nicht bekannt. 1994 dann folgte eine zweite Erklärung, diesmal vom Amtsgericht Zehdenick, in dessen Bezirk das ehemalige KZ Ravensbrück liegt. Hier wurde juristisch korrekt Maria Emilie Lichtenstein geborene Bonzel für tot erklärt, als Todeszeitpunkt der 31. Juli 1944 festgestellt.

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Dr. Stephan Schlösser hat die Geschichte des Ehepaars Lichtenstein im aktuellen Jahrbuch des Heimatvereins Olpe ausführlich niedergeschrieben. Auf 61 Seiten ist ein erschütternder Bericht entstanden, bei dem ihm Verwandte der beiden Ermordeten unterstützt haben. Sie begrüßen, so Stephan Schlösser, es sehr, „dass man sich in Olpe an ihre Tante bzw. Großtante erinnert“. Auch stellten sie Fotos und Dokumente zur Verfügung, die den Bericht ergänzen. Er schreibt: „Gegen alle Widerstände liebte Mia Bonzel aus Olpe einen Mann, dem die nationalsozialistische Rassenideologie das Recht absprach, überhaupt zu leben. Ihre Liebe bezahlte Mia Lichtenstein mit ihrem Leben.“

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Während der Name Alfred Lichtensteins in Les Milles, Paris und Jerusalem in zentralen Gedenkstätten dreimal festgehalten ist, gibt es für Mia geb. Bonzel keinen einzigen Gedenkort. „Möge diese Veröffentlichung ihrem Gedenken dienen“, schreibt Dr. Stephan Schlösser – und wer das Jahrbuch liest, kann nicht anders als zu konstatieren, dass ihm das gelungen ist.