Attendorn. Anja Brehme leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrische Facharztpraxis in Attendorn. Sie ist vorsichtig mit Prognosen für das Mädchen.
Das Schicksal des achtjährigen Mädchens aus Attendorn macht deutschlandweit fassungslos. Fast ihr ganzes bisheriges Leben lang lebte sie abgeschirmt von der Außenwelt. Und auch wenn Vertreter der Staatsanwaltschaft und des Jugendamtes keine körperlichen Misshandlungen feststellen konnten: Die jahrelange Isolation hat psychische Spuren hinterlassen. Welche das sind, erklärt Fachärztin Anja Brehme, die den Standort der Facharztpraxis Dr. Vitt-Beiler und Brehme am Nordwall in Attendorn leitet.
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Welche Defizite/Störungen/Erkrankungen können sich aus einer derartigen Isolation eines Kindes ergeben?
Diese Frage lässt sich anhand der aktuellen Datenlage sicherlich noch nicht voll umfänglich beantworten. Es werden derzeit in der Presse verschiedene Defizite in der normalen gesunden Entwicklung eines Kindes berichtet. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Deprivation, gemeint ist das Fehlen von wichtigen Entwicklungsräumen, wie beispielsweise die soziale Interaktion, äußere Sinnesreize oder aber auch die emotionale Beziehungsangebot zu primären Bezugspersonen. Eine soziale Deprivation bedeutet ein Fehlen von Kontakten zu anderen Menschen, wie zu gleichaltrigen Kindern, anderen Erwachsenen, wie Lehrern oder Erzieherinnen, aber auch solche Alltagskontakte wie dem Bäcker um die Ecke beispielsweise. Damit einhergehend entstehen Defizite in der sozialen Entwicklung, die für das Erlernen von altersangemessenen Kompetenzen im Bereich von Durchsetzungsvermögen, Umgang mit Konflikten sowie die Ausbildung eines gesunden Selbstvertrauens und das Artikulieren und Durchsetzen von eigenen Bedürfnissen wichtig sind. Hieraus könnten dann unterschiedliche Ängste, Bindungsstörungen sowie auch depressive Symptome, Anpassungsstörungen oder posttraumatischen Störungen entstehen. Auch das Fehlen von diversen Sinneseindrücken, wie das Sehen, Fühlen und Riechen von multiplen Außenreizen beispielsweise kann zu unterschiedlichen Defiziten in den entsprechenden verarbeitenden Gehirnbereichen führen, die sich durch die fehlende Anregung nur unzureichend entwickeln können. Es kann zu Defiziten in den Bereichen Wahrnehmung, Kognition und den Emotionen kommen. Wir sprechen hier von sensorischer Deprivation.
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Können derartige Defizite aufgeholt werden?
Vor dem Hintergrund der diversen oben genannten möglichen Folgen, die durch diese fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten entstehen können und deren komplexes Ineinandergreifen, ist leider auch hierbei keine einfache und endgültige Antwort möglich. Gerade ein kindliches Gehirn ist zu enormen Entwicklungen und damit einhergehend zu dem Aufholen von nicht erfolgten Differenzierungen in der Lage, wenn es die Möglichkeiten erhält. Wir sprechen in diesen Zusammenhängen gerne von Resilienz, gemeint ist die kindliche bzw. psychische Widerstandskraft, die ebenfalls in diesem Kontext eine Rolle spielt und deren Fähigkeiten ich aufgrund der aktuellen Datenlage nicht beurteilen kann. Andere Defizite wie eine gestörte frühkindlichen Bindung können auf der anderen Seite jedoch häufig auch zu bleibenden Problemen führen, die dann nicht wieder aufgeholt werden können.
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Das Kind ist zurzeit bei einer Pflegefamilie untergebracht. Ist es für ein Kind nicht schwierig, sich in einer fremden Umgebung mit fremden Menschen zurechtzufinden, gerade wenn es nie mit der fremden Umwelt konfrontiert wurde? Besteht hier die Gefahr einer weiteren Traumatisierung?
Ich möchte anmerken, dass sicherlich durch entsprechende Fachleute zwischen der bestehenden Bindung zu den bekannten Bezugspersonen einerseits und den vorgebrachten Vorwürfen andererseits sorgfältig abgewogen wurde. Auch hier sind mir viele wichtige Daten, wie die psychische Verfassung dieser Personen nicht bekannt. Die derzeit laufenden Ermittlungen in diesem Fall können weitere Beweggründe für die sofortige Herausnahme des Kindes gewesen sein. Sicherlich wurde und wird sorgfältig geprüft, welche Kontaktmöglichkeiten zu der Familie sinnvoll und möglich sind. In solchen Fällen kann eventuell beispielsweise auch ein sogenannter „begleiteter Umgang zu der Familie“ gemeinsam mit entsprechenden geschulten Mitarbeitern der Jugendhilfe eine Möglichkeit sein, um auf diese kindlichen Bedürfnisse einzugehen. Man wird die weiteren Ermittlungen und die sicherlich einzuholende gutachterlichen Stellungnahmen abwarten müssen.
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