Olpe/Attendorn. Im Fall des Mädchens, das sieben seiner bisher acht Lebensjahre isoliert in einem Haus lebte, muss sich das Jugendamt kritischen Fragen stellen.
Der tragische Fall des achtjährigen Mädchens, das nach derzeitigem Kenntnisstand den Großteil seines Lebens mit seiner Mutter und deren Eltern isoliert in einem Haus am Grafweg in Attendorn gelebt hat, sorgte in der vergangenen Sitzung des Jugendhilfeausschusses des Kreises für große Betroffenheit. Vorsitzender Holger Mester (CDU): „Jeder hier ist erschrocken über das, was in Attendorn passiert ist. Attendorn ist in aller Munde wegen der Unbegreiflichkeit des Geschehenen.“ Er begrüßte, dass die Kreisverwaltung, wie von Fred Hansen (Grüne) angeregt, die Gelegenheit nutzen wolle, ausführlich zu informieren. Und Michael Färber als zuständiger Fachbereichsleiter der Kreisverwaltugn ging in seinem Bericht ins Detail. Dabei kamen Aspekte ans Licht, die so bisher noch nicht bekannt waren.
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Färber betonte, dass die Betroffenheit natürlich auch beim Jugendamt groß sei. „Solche Dinge kann man sich nicht vorstellen.“
Sein Amt hatte 2015 erstmals Kontakt zu der Familie. Damals ging es um einen Sorgerechtsstreit der unverheirateten Eltern. Der Kindesvater wollte ein Umgangsrecht erwirken. Eben das lehnte die Mutter ab. Daher zog sich das Verfahren hin. Derweil nahm das Jugendamt laut Michael Färber eine klare Position ein: Die Fachleute sprachen sich dafür aus, beiden Elternteilen das Sorgerecht zuzusprechen. Der Fachbereichsleiter berichtete im Ausschuss, dass sich die Mutter noch vor einem Beschluss des Familiengerichts, also während des laufenden Verfahrens, beim Einwohnermeldeamt in Attendorn abgemeldet und den Wegzug zu Verwandten nach Italien mitgeteilt habe. Färber: „Der Anwalt des Kindesvaters hatte damals vorgetragen, es handele sich um einen Scheinumzug. Das Jugendamt konnte das aber bei einem Hausbesuch nicht bestätigen.“
Jahrelang keine Neuigkeiten
Am 3. Februar 2016 entschied das Familiengericht: Beiden Eltern soll das Sorgerecht zustehen. Der Fachbereichsleiter betonte, dass selbst das Gericht die neue Wohnadresse der Mutter in Italien aufgenommen hatte. „Für uns gab es keine Anzeichen, etwas anzuzweifeln.“ Das Amt schloss folglich die Aktendeckel. Viereinhalb Jahre lang geschah nichts. Erst anonyme Hinweise im Oktober/November 2020 brachten neuerliche Zweifel. In den Meldungen wurde behauptet, das Kind halte sich in der großelterlichen Wohnung in Attendorn auf und werde dort festgehalten. Färber: „Wir haben sofort reagiert, es gab einen Hausbesuch, wir haben Gespräche mit der Großmutter geführt, sie hat sehr überzeugend und glaubhaft dargestellt, dass ihre Tochter und das Enkelkind in Italien seien.“
Trotz dieser Aussage habe das Amt weitere Recherchen angestellt. So wurden ortsansässige Kinderärzte befragt und Nachforschungen bei der AOK angestellt. Ergebnis: Das Mädchen war zwar freiwillig krankenversichert, allerdings waren seit 2015 keinerlei Leistungen in Anspruch genommen worden. Färber: „Daher haben wir weiter angenommen, Mutter und Kind seien in Italien.“
Nach einer zeitnahen weiteren anonymen Meldung sei das Jugendamt noch einmal bei der Großmutter vorstellig geworden mit dem gleichen Ergebnis. Auch eine Rücksprache mit der Polizei habe zum Ergebnis gehabt, dass die vorliegenden anonymen Hinweise zu wenig seien, um mit einem richterlichen Beschluss einzugreifen.
Die Wendung für das Kreisjugendamt kam im Juni 2022 mit dem Anruf eines Ehepaars aus Lennestadt. Färber: „Dessen Kontakte zu Bekannten der Familie führten dazu, dass wir in Italien um Amtshilfe ersucht haben.“ Am Ende kam heraus, dass Mutter und Tochter in Italien nie gemeldet worden waren. Dann ging alles schnell. Das Jugendamt wandte sich mit einer Gefährdungsmitteilung ans Familiengericht. Einen Tag später konnte das Mädchen befreit und in die Obhut der Behörde genommen werden.
Enge ärztliche Anbindung
Zum Zustand des Mädchens erklärte Färber: „Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Natürlich ist noch vieles zu klären, es gibt eine enge ärztliche Anbindung an eine Klinik und eine Psychologin.“ Absolute Priorität habe derzeit der Schutz des Kindes und auch der Pflegefamilie. „Auch wir stellen uns Fragen. Hätte die Amtshilfe früher ersucht werden müssen? Wir hinterfragen unser Vorgehen kritisch.“
Im Ausschuss nutzten die Mitglieder Fred Hansen, Anna-Maria Orsini-Bruno (SPD) und Claudia Berling (FDP) die Gelegenheit, kritische Nachfragen zu stellen. Färber erklärte, er könne viele Kritikpunkte nachvollziehen. Allerdings sei es nun einmal so: „Im Nachhinein bin ich immer schlauer.“ Das Jugendamt habe kein Betretungsrecht gehabt. „Wir können nicht einfach ins Haus ohne richterlichen Beschluss. Manche lassen uns ‘rein, aber viele nicht. Wir haben nach dem familiengerichtlichen Verfahren viereinhalb Jahre keinerlei Hinweise bekommen.“ Auch nicht vom sorgeberechtigten Vater, der sein Umgangsrecht ja zuvor gerichtlich durchgesetzt hatte. Ein einziger Anruf, ein Brief des Vaters hätten wohl gereicht, um das Jugendamt viel früher zu alarmieren.
Tatsächlich ist es so, dass das Jugendamt in einem solchen Fall zunächst nur klingeln dürfe, bestätigt ein Sprecher des NRW-Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration auf Anfrage: „Nur in begründeten Ausnahmefällen darf das Jugendamt Informationen bei Dritten einholen. Alle übrigen Maßnahme dürfen nur bei Gefahr in Verzug oder auf gerichtlichen Beschluss unter Zuhilfenahme der Polizei erfolgen.“ Einen solchen richterlichen Beschluss bekomme die Behörde vom Familiengericht auch nur, wenn es „gewichtige Anhaltspunkte einer Kindeswohlgefährdung“ sehe, so der Sprecher.
Fehler nicht nur beim Jugendamt
Insbesondere Hansen betonte, er habe vom Amt ein entschiedeneres Durchgreifen mit früherer Hinzuziehung von Polizei und Gericht erwartet. Färber bat darum, bei der Suche nach Fehlern den „Blick nicht nur aufs Jugendamt zu richten“. Insbesondere betonte er: „Wir sind nicht im Rahmen einer vermuteten Kindeswohlgefährdung tätig geworden, es ging immer nur um ein Umgangsrecht.“ Wäre es um eine Kindeswohlgefährdung mit Meldeadresse Italien gewesen, „dann wären wir selbstverständlich so tätig geworden wie von Ihnen beschrieben.“
Holger Mester schloss: „Ich hoffe, dass das Mädchen jetzt ein beschütztes Leben führen und behütet aufholen kann, was ihm versagt wurde.“