Attendorn. Die Gaspreisexplosion schlägt durch. Vor allem Besitzer älterer Häuser sind Leidtragende. Eine Witwe aus Attendorn dürfte kein Einzelfall sein.
Der Gesichtsausdruck der älteren Dame, die mir gegenübersitzt, spricht Bände: „Ich bin hier doch ganz alleine, wie kommt es denn zu solchen Summen“, sagt sie. Auf dem Tisch vor ihr liegen mehrere Dokumente, die alle mit einem Thema zu tun haben, das derzeit viele Hausbesitzer und irgendwann auch alle Mieter umtreiben wird: der Erdgaspreis.
Gertrud Merschkötter ist 89 Jahre alt, seit zehn Jahren Witwe. Seit 50 Jahren lebt sie in ihrem Haus in Attendorn. Dort, wo ihr Ehemann als Landarzt viele Menschen behandelt hat, wo ihre Kinder aufgewachsen sind. Ihr Schwiegersohn, der in Olpe bekannte ehemalige Kardiologe Dr. Meinhard Sauer, sitzt mit am Tisch. Ihn hat sie eingeweiht, als das Unheil in Form der Rechnung der Bigge-Energie auf ihrem Tisch lag. Der monatliche Abschlag hatte sich in wenigen Wochen auf fast 1000 Euro etwa verdoppelt. Heißt: Allein fürs Gas muss die Witwe rund 12.000 Euro an den Gasversorger überweisen. Für ein Jahr.
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„Ich habe erst einmal nachgeschaut, ob die Heizungsanlage vielleicht defekt wäre. War sie aber nicht“, sagt Meinhard Sauer. Der sich auch darüber ärgert, dass die Bigge Energie seiner Schwiegermutter preislich nicht entgegenkommt: „Sie hat nie zu den üblichen Verivox-Kunden gehört, die Jahr für Jahr den Anbieter wechseln, sondern immer treu und brav den Bigge Energie-Tarif gezahlt. Das nützt ihr jetzt offenbar nichts.“
Siegener Versorgungsbetriebe am günstigsten
Mit ihrem Gaspreis für Bestandskunden liegt die Bigge Energie eher am unteren Ende der Preisspirale im Markt. Im Basistarif werden für Vielverbraucher 17,11 Cent pro Kilowattstunde (kWh) fällig bei einer Grundgebühr von 171 Euro pro Jahr. Lediglich der Preis für Neukunden im Grund- und Ersatzversorgungstarif mit 42 Cent pro kWh ist ein Ausreißer.
Der günstigste Verivox-Anbieter für die Region Attendorn sind die Siegener Versorgungsbetriebe mit 14,99 Cent pro kWh, bei einer Grundgebühr von 200 Euro pro Jahr. Allerdings bei einer Vertragslaufzeit von 24 Monaten. Witwe Merschkötter müsste dort bei ihrem Verbrauch 928,80 Euro pro Jahr zahlen.
Günstigster Anbieter auf Verivox für Neukunden bei einer Vertragslaufzeit von einem Monat ist Yippie, eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der MAINGAU Energie GmbH. Hier kostet das Gas 20,54 Cent pro kWh, bei einer jährlichen Grundgebühr von 117 Euro.
Die Räume des Hauses sind weitläufig, ein großes Wohnzimmer mit mehreren Heizkörpern lässt erahnen, wo der hohe Gasverbrauch von rund 70.000 Kilowattstunden, herkommt. Aber 12.000 Euro im Jahr? Gertrud Merschkötter und ihr Schwiegersohn geht es dennoch nicht darum, zu jammern. Vielmehr wollen sie das grundsätzliche Problem öffentlich deutlich machen.
Viele sind betroffen
„Das wird vermutlich viele Menschen betreffen, die in den 60er, 70er Jahren ähnlich gebaut haben. Und wir finden, dass darüber gesprochen werden sollte“, sagt Meinhard Sauer, „denn da rollt auf viele Hausbesitzer, aber auch auf Mieter eine Lawine zu. Das kann der Staat nicht so laufen lassen.“
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Die Probleme sieht auch Ingo Ehrhardt, Geschäftsführer des heimischen Energieversorgers Bigge Energie, auf die Menschen zu rollen: „Der Basistarif für unsere Bestandskunden liegt bei einem Verbrauch über 30.000 kWh pro Jahr bei rund 17 Cent brutto für die Kilowattstunde, vor einem Jahr musste dieser Kunde bei uns im Basistarif noch etwa 8 Cent zahlen.“ Also eine Steigerung um mehr als 100 Prozent. Ganz deftig trifft es Neukunden im Grund- und Ersatzversorgertarif, also solche, die von einem anderen Anbieter kommen oder beispielsweise in Attendorn oder Olpe neu bauen und in den Grundversorgertarif fallen. Ehrhardt: „Wer in unser Versorgungsnetz neu baut, den nehmen wir noch auf.“ Allerdings für 42,14 Cent pro Kilowattstunde. Bestandskunden zahlten derzeit je nach Tarif etwa 16 bis 17 Cent pro Kilowattstunde. Aber wie kommt es zu diesem enormen Preisunterschied, wollen wir von Ehrhardt wissen? „Die Bestandskunden haben ihre Verträge ja schon vor einiger Zeit abgeschlossen. Und diese Mengen Gas sind von Vorlieferanten bestellt worden. Diejenigen, die von anderen Anbietern, die möglicherweise insolvent gegangen sind, uns zufallen, deren Gasmengen sind ja nicht frühzeitig bestellt worden. Und das muss kurzfristig beschafft werden.“ Damit erkläre sich der große Preisunterschied.
Zukunft völlig ungewiss
Auf die Frage, ob er „Licht am Ende des Tunnels sehe“, zuckt Ehrhardt mit den Schultern: „Das kann niemand sagen.“ Die grundsätzliche Situation auf dem Gasmarkt sei problematisch, wenn selbst ein Großlieferant wie Uniper, obwohl finnisch, aus deutschen Steuergeldern unterstützt werden müsse. „Würde Uniper insolvent gehen, könnten durch einen Domino-Effekt auch daran hängende Stadtwerke kippen.“ Hintergrund sei der galoppierende Gaspreis an der Börse: „Es trifft alle Versorger gleichermaßen. Wir liegen mit unseren Preisen im Markt. Wir kaufen ständig Gas dazu.“ Und der Börsenpreis sei im Vergleich zu 2021 um ein Vielfaches explodiert. Ehrhardts bitteres Fazit: „Es ist meine große Befürchtung, dass viele Haushalte angesichts der zu erwartenden Rechnungen hinten runterfallen. Ich kann es zwar nicht definitiv sagen, fürchte aber, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist.“
Mit Blick auf Gertrud Merschkötter oder vergleichbare Kunden gebe es seitens der Bigge Energie keine Härtefallregelungen: „Wir haben alles ausgereizt, sind unseren treuen Bestandskunden schon entgegengekommen.“
Das sagt der Heizungsexperte?
Die Alternativen auch für ältere Häuser sind zwar da, aber kostspielig und kurzfristig schwer umzusetzen. Thomas Enders aus Olpe, Innungsobermeister der Heizungs- und Sanitärbranche: „Wer eine neue Gasbrennwertanlage statt einem alten atmosphärischen Gaskessel einbauen lassen möchte, muss mit einem Vorlauf von rund acht bis zehn Wochen kalkulieren.“ Derzeit mache das aber kaum jemand. Kostenpunkt: Rund 10.000 bis 11.000 Euro.
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Wer eine große Solaranlage aufs Dach installieren lasse für eine Heizungsunterstützung in der Größenordnung von 65 Prozent regenerativen Anteils müsse mit einem Vorlauf von zwei bis drei Monaten rechnen. „Vorausgesetzt, wir bekommen Solarmodule. Diese Situation wird aber auch von Tag zu Tag problematischer.“ Kostenpunkt: 20.000 bis 25.000 Euro.
Am stärksten gefragt seien Wärmepumpen: „Wenn wir heute Wärmepumpen bestellen, bekommen wir sie in 90 Prozent der Fälle im März, April 2023. Von Januar bis jetzt haben wir etwa 30 Wärmepumpen bestellt, eine haben wir bisher bekommen.“ Kostenpunkt: 30.000 bis 35.000 Euro.
Wer von einer Ölheizung auf Wärmepumpe umsteige, könne eine Förderung von bis zu 55 Prozent erhalten, wer von Gas umsteige, könne mit 35 bis 40 Prozent Förderung rechnen. Aber: „Bei der BAFA gehen jeden Tag tausende Anträge ein und es ist mit einer langen Bearbeitungszeit zu rechnen.“ Wärmepumpen seien allerdings nicht überall problemlos einsetzbar. Bei Fußbodenheizungen sei die Umrüstung unproblematisch. Wenn Heizkörper vorhanden sind, müssen teilweise größere installiert werden.