Wenden/Römershagen. Bei Matthis Reichstein (32) wurde die Krankheit Moyamoya diagnostiziert. Zwei Mal wurde er operiert. Halt gab ihm der Schützenverein Römershagen.

Heute erinnern nur noch zwei verblasste Narben an die Krankheit. Die kahlen Stellen im Schläfenbereich werden fast von den Haaren verdeckt. Sie sind ein Überbleibsel der Operationen, die Matthis Reichstein (32) aus Wenden wieder ein normales Leben ermöglichen. Ein Leben wie vor „Moyamoya“, eine Durchblutungsstörung im Gehirn und damit verbundener Schlaganfälle.

+++ Lesen Sie auch: Massenkarambolage auf A45 bei Drolshagen: Wie es dazu kam +++

„Eigentlich habe ich schon 2018/2019 gemerkt, dass etwas nicht stimmte“, erzählt Reichstein rückblickend. Er hatte zunehmend Probleme, mit der Hand zu schreiben, konnte den Stift nicht mehr vernünftig führen. „Ich habe mir dabei aber erst mal nicht so viel gedacht. Im Job tippe ich eigentlich nur noch. Es hätte ja sein können, dass die Bewegung, mit der Hand zu schreiben, für mich mittlerweile ungewohnt war.“ Er versuchte das Schreiben von Hand wieder zu trainieren, es wurde jedoch nicht besser.

Unkontrollierte Sprachstörung: Neurologin reagiert sofort

März 2020. Corona-Lockdown. Plötzlich gab es mehr Homeoffice, mehr digitale Konferenzen. Auch für Matthis Reichstein, der bei der „Jovita Rheinland“, einem Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit Behinderungen, als Leitung tätig ist. Ein Job, der ihn erfüllt, eine sinnstiftende Tätigkeit. Doch in den Telefonkonferenzen fiel ihm zunehmend auf, dass seine Sprache verwaschener klang. „Ich habe gemerkt, wie meine Zunge schwer wurde und ich dadurch gelallt habe. Das habe ich erst mal auf Unkonzentriertheit und Stress geschoben. Es waren zunächst auch nur kurze Episoden“, sagt Reichstein. Doch auch diese Sprachstörungen wurden häufiger. Bei dem Geburtstag seiner Patentochter wurde er schließlich auf das Lallen angesprochen. Bald wurde es so schlimm, dass er keine Worte mehr formen konnte.

+++ Lesen Sie auch: Ferienpark in Attendorn: Erholung mit luxuriöser Ausstattung +++

Im Mai 2020 ging Reichstein zum Hausarzt. Dieser überwies ihn noch am gleichen Tag zum CT. Das Ergebnis war unauffällig. „Das war für mich erst mal eine Erleichterung. Im Nachhinein ist das aber wenig verwunderlich. Weil ein CT nicht die Durchblutung bzw. die ischämischen Attacken und Schlaganfälle abbilden kann“, so Reichstein. Doch sein Hausarzt wollte auf Nummer sicher gehen und stellte ihm parallel dazu noch eine Überweisung zur Neurologie aus. Reichstein schickte eine E-Mail an die Neurologin Regine Augspach-Hofmann aus Olpe und beschrieb darin seine Symptomatik. „Zwei Stunden später habe ich einen Anruf bekommen, dass ich am nächsten Tag in die Praxis kommen soll.“ Ungewöhnlich. Normalerweise wartet man wochenlang auf einen Termin.

„Moyamoya“ – „Wölkchen“ im Gehirn

Unter „Moyamoya“ versteht man die zunehmende Verengung und den Verschluss des Endabschnitts der inneren Halsschlagader im Bereich des Gehirns und der angrenzenden Hirngefäße.

Der Name Moyamoya (japanisch für Wölkchen, Rauchschwade) deutet auf die Umgehungskreisläufe (Kollateralen) der Hirngefäße hin. Wenn die Blutversorgung dieser Umgehungskreisläufe nicht ausreicht, kann es zu kurzzeitigen Durchblutungsstörungen oder zu Schlaganfällen kommen. Außerdem können Kopfschmerzen, Epilepsien und Hirnblutungen auftreten.

Die Erkrankung tritt häufiger bei asiatischen Patienten, vor allem in Japan und Korea auf und gilt bei nicht-asiatischen Patienten als sehr selten.

Es folgte ein MRT in der Radiologie in Olpe. Aufgrund von Auffälligkeiten wurde Reichstein in die Neurologie im Kreisklinikum Siegen überwiesen. Allerdings sollte er sich fahren lassen. Autofahren wäre zu gefährlich gewesen. Seine Freundin fuhr ihn. Mit reingehen durfte sie wegen der Corona-Bestimmungen nicht. Reichstein wurde auf der „Stroke Unit“ aufgenommen. In den diagnostischen Untersuchungen wurde eine auffällige Engstelle im Gehirn festgestellt. Um diese näher untersuchen zu können, musste eine Katheter-Angiographie vorgenommen werden. Hierbei können mittels Kontrastmittel die Blutgefäße im Gehirn sichtbar gemacht werden. Im Fall von Reichstein wurde sichtbar, wie sich ein wolkenartiges Gebilde um die Hirngefäße spinnt. Die Diagnose: „Moyamoya“.

„Als ich mir den Aufklärungsbogen durchgelesen und verstanden habe, was das bedeutet, wurde mir erst mal schwarz vor Augen“, erinnert sich Reichstein. Aber er geht sein Schicksal praktisch und positiv an. Denn es gibt gute Behandlungsmöglichkeiten. Mit Medikamenten und operativen Eingriffen. „Schon als ich Blutverdünner bekommen habe, habe ich gemerkt, dass meine Symptome sehr schnell besser wurden.“ Zwei Operationen, bei denen EC-IC-Bypässe angelegt wurden, sollten zusätzlich die Durchblutung verbessern. Dafür wird ein kleines Loch in den Schädelknochen im Schläfenbereich gebohrt, sodass Blutgefäße der Haut mit den unter der Schädeldecke befindlichen Blutgefäßen im Gehirn verbunden werden. Hierdurch wird das Risiko weiterer Schlaganfalls erheblich reduziert.

Schädelstücke als Erinnerung

Reichstein wurde von Siegen zur weiteren Behandlung nach Essen ins Alfried-Krupp-Krankenhaus überwiesen. Die dortige Neurologie ist eine von sehr wenigen in Deutschland, die spezialisiert ist auf die „Moyamoya“-Erkrankung. Nachdem die Ärzte dort die Diagnose bestätigt hatten, wurde er schließlich im September 2020 – zwei Tage nach seinem 31. Geburtstag – zum ersten Mal operiert. Zunächst an der rechten Schläfe, im Dezember 2020 dann auch an der linken Schläfe. Die ausgebohrten Schädelstücke, etwas kleiner als eine Ein-Euro-Münze, hat er als Andenken behalten.

+++ Lesen Sie auch: Ukraine: Autozulieferer schicken Mitarbeiter in Kurzarbeit +++

„Ich hatte großes Glück, dass meine Ärzte schnell reagiert haben und ich eine schnelle Diagnose bekam. Dadurch habe ich keine bleibenden Schäden davon getragen“, meint der 32-Jährige. Keine Seh- oder Sprachstörungen, keine Lähmungen, keinen schwerwiegenden Schlaganfall. Er ist zwar auf Blutverdünner angewiesen, hat sonst aber keine Einschränkungen im Alltag. Schon ein paar Wochen nach den Eingriffen ging Reichstein wieder arbeiten. „Das war meine beste Reha: Arbeit und das Engagement im Schützenverein.“

Matthis Reichstein (links) hat immer Halt bei seinen Schützenbrüdern aus Römershagen gefunden. Hier steht er zusammen mit seinem Vater Ferdinand Reer (Mitte) und seinem Bruder Martin Reichstein.
Matthis Reichstein (links) hat immer Halt bei seinen Schützenbrüdern aus Römershagen gefunden. Hier steht er zusammen mit seinem Vater Ferdinand Reer (Mitte) und seinem Bruder Martin Reichstein. © Privat

Reichstein, der gleichzeitig 1. Vorsitzender des Schützenvereins Römershagen ist, hatte sich zusammen mit den Schützenmitgliedern – allen voran mit seinem Bruder Martin – dafür eingesetzt, dass der Um- und Anbau an der Schützenhalle im Dorf mit Landesmitteln aus dem Dorferneuerungsprogramm unterstützt wird. Im Herbst 2019 kam schließlich die Förderzusage in Höhe von 165.000 Euro – eine riesige Motivation. Parallel zu seiner Diagnose und den Operationen liefen die Baumaßnahmen an der Schützenhalle. „Die Schützenbrüder haben mir in dieser Zeit den Rücken frei gehalten. Der Verein war für mich ein großer Antrieb, schnell wieder auf die Beine zu kommen“, erzählt Reichstein. Umso größer ist die Freude auf das Jubiläumsschützenfest am 3. Juni, wenn der kleinste Schützenverein im Kreis Olpe sein 100-jähriges Bestehen feiern kann. Und mittendrin Matthis Reichstein. Wieder in seinem normalen Leben.