Kreis Olpe. . Er war drei Jahre alt als es das erste Mal passierte. Heute redet Patrik (52) offen über seine Kindheit. Denn er will anderen Betroffenen helfen:

Patrik war drei Jahre alt als es das erste Mal passierte. Als der Nachbar ihn sexuell missbrauchte. Als der Freund seiner Eltern über ihn herfiel, ihn anfasste, ihn vergewaltigte. Immer und immer wieder. Der Mann, der auf den kleinen Jungen aufpassen sollte. Heute ist Patrik 52 Jahre alt. Er sitzt am Tisch, seine Miene ist gefasst. Mit klarer Stimme erzählt der Mann aus dem Kreis Olpe unserer Zeitung seine Geschichte. Über eine Kindheit, die kaum schlimmer hätte sein können.

Es ist das Jahr 1969. Patrik lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Seine Eltern bauen grade ein Haus, die Zeit sich um ihren kleinen, dreijährigen Sohn zu kümmern ist knapp. Sie geben ihn in die Hände des Nachbarn. Ein vertrauensvoller Mensch – so scheint es. Doch mit diesem Tag beginnen die Qualen. Der Mann fällt über den Jungen her. Immer wieder. Er nimmt ihn mit ins Bett zu seinem Mittagsschlaf, geht mit ihm in die Badewanne. Patrik spricht von unzähligen Übergriffen. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr. Und dann nochmal als er neun wurde, zur Zeit seiner Kommunion. Er hat nie etwas gesagt. Doch, das stimmt gar nicht, einmal hat er es versucht, erinnert sich der 52-jährige Mann im Gespräch mit unserer Zeitung. „Ach quatsch, hat die Mutter gesagt“, weiß er noch. Seine Mutter ist ein Kriegskind, hat gelernt die schlimmen Sachen beiseitezuschieben. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass Patrik darüber sprach. Vorerst.

Jahre des Schweigens

Patrik hat viele Jahre geschwiegen. Jahrzehnte. Nicht bewusst, wie er betont. Denn der Mann hat lange Zeit einfach verdrängt, was ihm widerfahren ist. Er ging zum Arzt, da war er bereits erwachsen. Es ging ihm einfach nicht gut. In seinem Rachen hatte sich ein Schleim festgesetzt, den er nicht runterschlucken konnte. Er fühlte diese Niedergeschlagenheit, die er nicht zuordnen konnte. Depressionen hüllten ihn ein. Die Ärzte schickten ihn in Therapien, verschrieben Anti-Depressiva. Nichts wirkte. Denn niemand begriff, den Kern seines Leidens. Nicht mal er selbst.

Erstes Treffen am 14. November geplant

Die neue Selbsthilfegruppe für Männer und Frauen, die sexuell missbraucht wurden, trifft sich am Mittwoch, 14. November, zum ersten Mal. Der Ort wird bei der Anmeldung bekannt gegeben.

Bei der Selbsthilfegruppe wird neben Patrik auch Edith Rasche als Ansprechpartnerin zur Verfügung stehen. Damit wird ein männlicher und weiblicher Ansprechpartner vor Ort sein. Edith Rasche ist die Mitbegründerin des seit 2007 bestehenden Vereins „Ende des Schweigens - Menschenwürde für Opfer sexuellen Missbrauchs“.

Infos, Kontakt und Anmeldung erfolgt über die Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfegruppen Kreis Olpe e. V. bzw. der DRK-Selbsthilfe-Kontaktstelle Kreis Olpe unter 02761/2643. Schriftliche Anfragen nehmen Petra Weinbrenner-Dorff (weinbrenner.dorff@kv-olpe.drk.de) und Ulrike Bell (bell@kv-olpe.drl.de) entgegen.

Es wird darauf hingewiesen, dass eine Selbsthilfegruppe nur eine ergänzende bzw. unterstützende Hilfestellung darstellt. Es ist keine Alternative zu einer professionellen Traumatetherapie.

Lange Zeit dachte er, dass der Verlust eines Freundes ihn so geprägt habe. Da war er etwa 12 Jahre alt. Die beiden waren zusammen im Wald, als dem Jungen ein Herzfehler das Leben nahm. Er lag plötzlich auf dem Boden, Patrik lief sofort los, um Hilfe zu holen. Der Gedanke, vielleicht zu langsam gewesen zu sein, hat ihn lange beschäftigt. Doch erst in einer Fachklinik für Traumatherapie in Bad Fredeburg stellte sich raus, dass Patriks Beschwerdebild auf ein anderes Erlebnis zurückgeht. Es war das erste Mal, dass sich der Mann wieder an den Missbrauch erinnerte. Das war letztes Jahr. „Wenn man missbraucht wird, nimmt man eine andere Rolle ein. Man verdrängt es“, erklärt er. „In der Traumaklinik habe ich nochmal alles durchlebt, was ich gesehen, gefühlt, gerochen habe.“

Heute ist Patrik ein anderer Mensch. Die Zeit in der Traumaambulanz hat ihm sein Leben zurückgegeben. Oder besser: Er konnte das erste Mal wirklich leben. Der Mann, der mittlerweile im Kreis Olpe lebt, hat vier Kinder. Doch ein Vater war er nie wirklich, erzählt er. „Ich war emotional nie da“, sagt er. „Sexueller Missbrauch macht die Menschen kaputt. Ich habe immer gedacht, ich könnte nicht lieben.“

Das ist jetzt anders. Er redete mit seinen Kindern, erzählte seine Geschichte auch seiner Mutter. Eine große Last viel von seinen Schultern, befreite das Verhältnis zur seiner Familie aus den Ketten der Schwermut. Auch, wenn seine Mutter über das Thema nicht reden will.

Patrik lässt die Tränen nicht zu, er redet offen, sitzt aufrecht, zeigt Stärke. Die Lesebrille hat er beiseitegelegt. Daneben liegt ein Zettel mit Notizen. Ihm ist es wichtig, umfassend über das Thema aufzuklären.

Anderen Betroffenen Mut machen

Deswegen wird er künftig die neue Selbsthilfegruppe für Männer und Frauen, die sexuell missbraucht wurden, leiten. „Ich verschweige nichts mehr“, betont er. „Und das wünsche ich auch anderen Betroffenen. Ich will keine Jammer-Gruppe. Die Männer und Frauen sollen Gelegenheit haben, über sich zu erzählen.“

Der Täter wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Aber mit Hass und Wut will sich Patrick nicht auseinandersetzen. Im Gegenteil. Er will anderen Betroffenen Mut machen, ihnen dabei helfen ins Leben zu finden. So wie er selbst. Patrik möchte den Menschen helfen, diese Hemmschwelle zu überwinden. Vor allem den Männern, die sich oftmals noch schwerer damit tun, über das Erlebte zu reden. Auch Patrik möchte Kraft und Energie aus dieser Gemeinschaft schöpfen. Eine Gemeinschaft, in der sich Betroffene gegenseitig unterstützen. Damit die Erinnerung vielleicht irgendwann ein bisschen verblasst.