Herdecke. Jörg Hartmann hat im Buch „Der Lärm des Lebens“ seine Heimatstadt, seinen Werdegang und Vater „Hubsi“ gekonnt in Szene gesetzt. Eine Rezension.

Dieses Buch, da beißt die Maus keinen Faden ab, ist ein besonderes Werk für alle Herdecke-Sympathisanten. „Der Lärm des Lebens“ heißt es, der deutschlandweit bekannte Schauspieler Jörg Hartmann hat es geschrieben und jetzt am 12. März über den Rowohlt-Verlag veröffentlicht. Vordergründig geht es um einen Ich-Erzähler, der sein Leben beleuchtet. Doch auf den 301 Seiten tauchen zahlreiche Textpassagen auf, die Ortskundige aus einem speziellen Blick betrachten können.

Keine Autobiografie

Zunächst zum Genre. Jörg Hartmann hat keine Autobiografie verfasst. Gleichwohl hat er Gedanken und Ereignisse aus seinem Leben niedergeschrieben. Der Herdecker hat, wie er es sagt, nichts erfunden, aber die realen Geschehnisse in Prosa verwandelt. Bestes Beispiel: Viele Figuren in dem Buch haben keine Klarnamen erhalten. Seine engsten Verwandten nennt der Autor Vater, Mutter, Schwester. Seine erste Ehefrau oder auch die aktuelle Lebensgefährtin sowie die drei Kinder (eine Tochter aus erster Ehe) heißen in dem Buch anders als im wahren Leben. Damit wolle er sie auch etwas schützen, hat der 54-Jährige kürzlich gesagt.

Vater Hubert Hartmann im Mittelpunkt

Dabei hat der Dortmunder Tatort-Kommissar das Buch auch für seinen Nachwuchs geschrieben, damit auch der seinen Vater bzw. deren Opa nicht vergisst. Und sein Papa, das steht schon nach wenigen Seiten fest, steht oft im Mittelpunkt von „Der Lärm des Lebens“. Vor allem ältere Herdeckerinnen und Herdecker dürften wissen, dass es sich dabei um Hubert „Hubsi“ Hartmann (1936-2018) handelt. Kurze Stichworte reichen, um an den stadtbekannten Handballer, Hallen-Hausmeister, Dreher, Pommesbuden-Besitzer, Frikadellenkönig und Träger des Bundesverdienstordens zu erinnern. Oder an den Spendensammler, als er nach der Erkrankung seiner Enkelin ausdauernd um Geld für die Bekämpfung von Mukoviszidose gebeten hat.

Endstation am Nacken

Gleich das zweite Kapitel stellt einen der Höhepunkte des unterhaltsamen wie auch teils melancholischen Werkes dar. In der Episode „Endstation“ besucht der Sohn seinen demenzkranken Vater in einem Seniorenheim. Das befindet sich, auch da fehlt der Name, oben am Nacken. Vor allem dieser persönliche Austausch mit seinem sterbenskranken Papa habe ihn zum Schreiben motiviert, hat Jörg Hartmann kürzlich erklärt. Dabei kommt er auch immer wieder auf seine Heimat zu sprechen, „eine schöne, aber unbedeutende Stadt zwischen den Ruhrseen“. Wobei in dieser Passage auch einer der zentralen Sätze der Erzählungen (nicht chronologisch geordnet) auftaucht: „Herdecke schmiegte sich an mich wie eine warme Decke.“

Viel Lokalkolorit

Die Herdecker Episoden ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Etwa beim peinlichen Sackträgerlauf während der Maiwoche, an dem der unsportliche Junge Jörg teilnimmt. Immer wieder ist vom Wirt Albert die Rede, Einheimische ergänzen während der Lektüre gedanklich den Nachnamen Jungheim und sehen das Haus Pfingsten vor sich. Noch mehr Lokalkolorit gefällig? Der Autor erinnert sich auf witzige Art an den Schlagersänger Roy Black, der ebenfalls mal in seiner Heimatstadt lebte. Der Ich-Erzähler erwähnt den Ruhrsandstein, den Herrentisch, die „Asthma-Treppe“, das Speicherbecken, Gut Schede („Cornwall in Westfalen“), Viadukt, Harkortsee, den früheren Mühlengraben, die Umgehungsstraße oder den Bachplatz.

Persönliches und Familie

Dort befand sich einst bekanntlich ein Bunker, in den Jörg Hartmanns taubstumme Großeltern mit ihren vier Kindern (darunter „Hubsi“) während des Zweiten Weltkriegs Zuflucht suchten. Diese eindringliche Schilderung zeigt, wie gekonnt der Autor Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander stellt. An einer anderen Stelle verknüpft er die Erstürmung des Kapitols in den USA im Jahr 2021 mit einem großen Puppenhaus, das sein gehörloser Opa gebaut hat. Der Ausflug des Schauspielers nach China und eine Touristen-Abzocke folgen auf die eindringliche Beschreibung der Beerdigung von seinem Vater Hubert am hiesigen Waldfriedhof.

Lustige Anekdoten

Diesen traurigen stehen lustige Passagen gegenüber. Wenn der Leichenschmaus im Haus Pfingsten zu einer fröhlichen Angelegenheit mit westfälischem Dialekt wird oder Hubert Hartmann die Gebärdensprache durch den Kakao zieht, schmunzeln die Leser. Gleiches stellt sich ein, wenn Klassenclown Jörg nach seinem Abitur am Friedrich-Harkort-Gymnasium als Zivildienstleistender im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke das heilige Bild des Anthroposophen Rudolf Steiner gegen ein Poster von Batman austauscht.

Individueller Weg und Weltgeschichte

Weltgeschichte wie der Mauerfall trifft auf den Werdegang eines Schauspielers, der für seinen Karriere-Traum auch berühmte Vertreter des Genres anspricht. Den immer wieder Selbstzweifel plagen, der mittlerweile und vor allem in der Corona-Zeit einen kritischen Blick auf seine Zunft hat. Und in dem Buch auch viel weglässt. Seine bekanntesten Rollen als TV-Tatort-Kommissar oder als preisgekrönter Falk Kupfer in der Serie „Weissensee“ spielen kaum eine Rolle, das heimische Theater am Stiftsplatz bleibt ebenso unerwähnt.

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Die Hauptrollen in „Der Lärm des Lebens“ sind klar verteilt: an Herdecke, an den charismatischen Vater „Hubsi“ und an den Ich-Erzähler Jörg Hartmann. Warum es ihn aus der Kleinstadt wegzog, welche Erinnerungen er an seine Heimat hat und wie sein Weg zu einem der bekanntesten Schauspieler der Republik im Kontext der Zeitgeschichte erscheint – all das ergibt durch einen lebendigen Erzählton mit teils derber Sprache ein lesenswertes Buch. Für Literaturfreunde in ganz Deutschland, aber besonders für Einheimische.