Essen. Im „Tatort“ spielt er den Dortmunder Kommissar Faber, in der Wirklichkeit wuchs er in Herdecke auf – mit einem dunklen Schatten.
„Soll ich zurück?“, hat sich der im Ruhrgebiet aufgewachsene Jörg Hartmann „immer und immer wieder“ gefragt, „anderswo werde ich stets ein Fremder bleiben“. Und doch weiß er zu gut, dass von der Heimat nur noch eine Hülle übrig wäre. Zumindest von dem, was er nun in seinem heute erscheinenden Memoiren-Buch „Der Lärm des Lebens“ erinnert.
Eine Jugend in Herdecke. Der 1969 geborene Hartmann gehört zu den Ausläufern der Boomer-Welle – und begreift erst allmählich, was der Vater meinte, wenn er sagte, seine Eltern und seine Brüder seien „bei Adolf auf der Liste gewesen“: Jörg Hartmanns Großeltern waren gehörlos, „taubstumm“, wie man damals sagte. In der NS-Zeit also von Euthanasie bedroht, mindestens aber von einer Zwangssterilisation. Wie sie das Nazi-Regime überlebt haben, das wüsste Hartmann gern.
Jörg Hartmanns einst so kraftvoller Vater versinkt in Herdecke in der Demenz
Aber es ist zu spät. Sein Vater, der ihm davon hätte erzählen können, versinkt bereits in der Demenz. Jörg Hartmann besucht ihn hoch oben auf dem Berg über Herdecke, wo man einen „Schuhkarton in blasser Sandsteinfarbe“ als menschliche „Endstation“ errichtet hat, „ein typisches Beispiel für den fehlenden Gestaltungswillen heutiger Architekten. Eine Pappschachtel als Dankeschön an die Alten. Ein hingerotzter Renditewürfel“, wie Hartmann bissig bemerkt.
Er spart in diesen Erinnerungen, die von seiner Kindheit bis in seine Gegenwart in Berlin reichen, nicht mit kritischen Bemerkungen – auch über sich selbst, der zu spät gemerkt hat, wie wichtig es gewesen wäre, den Vater öfter besucht zu haben. Nicht nur, wie jetzt, zwischen zwei „Tatort“-Drehterminen in Dortmund: „So ist es, wenn man neben dem Bahnhof wohnt. Man verpasst jedes Mal den Zug, weil man meint, endlos Zeit zu haben.“
Vater Hartmann war stadtbekannter Handballspieler und Tresenturner in Herdecke
Hartmanns Vater, Dreher im Hagener Kreuzstromwerk und zeitweiliger Pommesbudenbetreiber, war ein typischer Vertreter der Nachkriegs-Generation im Ruhrgebiet: Zupackend und netzwerkend (immer gab es irgendwo jemanden, der etwas für ihn bauen oder erledigen konnte, so wie er auch anderen half), fleißig und feierlustig bis in die Knochen, oft in der Kneipe und immer bereit, dem Alltag mit einem flotten Spruch zu zeigen, wie sehr man über ihm stand. Der Sohn Hartmann staunt darüber, wie oft, wie viel die Kinder allein gelassen wurden, weil die Erwachsenen das Leben genießen wollten – was gar nicht mal zum Schaden der Kinder ausfiel.
Jörg Hartmann liest
Eingeladen vom Netzwerk Literaturgebiet.ruhr begibt sich Hartmann im April auf Lesereise durch die Region. Schnelligkeit ist gefragt beim Kartenkauf: Die Termine der Tour de Literaturgebiet.ruhr sind so stark nachgefragt, dass man zum Teil auf größere Räume ausweichen musste.
7. April, 18 Uhr: Tanzcenter kx Kochtokrax, Südring 31, 59423 Unna
11. April, 19:30 Uhr: Mathias-Jakobs-Stadthalle, Friedrichstr. 53, 45964 Gladbeck
12. April, 19 Uhr: Haus Witten, Ruhrstraße 86, 58452 Witten
15. April, 19:30 Uhr: Gaststätte „Hürter“, Gladbecker Str. 19, 46236 Bottrop
Vater Hartmann war ein stadtbekannter Hallodri in Herdecke. Sein Sohn spekuliert darüber, ob er diese Spaßmacher-Art vielleicht schon früh entwickelt haben könnte, um möglichem Spott über seine gehörlosen Eltern und deren Artikulation vorzubeugen. Es geht nämlich fast immer um Sprache in diesem Buch
Jörg Hartmann mit seinem Kumpel Hüseyin vor der Berliner Schaubühne
Auch als Handballer war Vater Hartmann Hansdampf in allen Gassen. Sein spilleriger Sohn aber erweist sich sportlich eher unbegabt, wenngleich er im Handball ein einziges „Wunder von Stuttgart“ erleben wird, wo er, ohne gefrühstückt zu haben, entscheidend ins Spiel eingreift –was keine Handball-Karriere, aber einen hilfreichen Glauben beflügelt, in entscheidenden Situationen über sich hinauswachsen zu können. Kühn sein zu können.
Anekdoten über Ulrich Matthes, Thomas Holtzmann und Rolf Boysen
Zum Beispiel, als er und sein Kollege und sein Freund Hüseyin, frischgebackene Absolventen der Stuttgarter Schauspielschule, vor der legendären Schaubühne in Berlin stehen – und da rein wollen. Nicht als Publikum, sondern als Bühnenhelden. Sie rütteln aber nicht am Gitter, sondern sprechen auf gut Glück in der Kantine die Intendantin Andrea Breth. Sie scheint nicht abgeneigt, gibt den beiden Eleven aber erst mal eine „Hausaufgabe“. Das Theaterleben macht die andere Hälfte dieses mal schnurrig, mal nachdenklich erzählten Buchs aus. Es gibt Anekdoten mit Ulrich Matthes (dessen Ähnlichkeit mit Hartmann letzterem gleich zweimal den Weg zu verbauen scheint), mit Legenden wie Thomas Holtzmann und Rolf Boysen.
Seine Anfangsjahre am Theater in Meiningen und in Mannheim, bevor er dann doch Ensemble-Mitglied an der Berliner Schaubühne wird, handelt Hartmann dagegen kursorisch ab. Es geht ihm weniger darum, alle seine Lebensstationen abzuhandeln als vielmehr darum, die Sprache in den Mittelpunkt zu stellen, von den Gebärden der Großeltern bis zur (Körper-)Sprache auf der Bühne.
Jörg Hartmann schreibt Dialoge in der Sprache, die Menschen hier sprechen
Und selten ist der Zungenschlag des östlichen Ruhrgebiets so gekonnt in Buchstaben umgesetzt worden wie hier. Mehr noch: Dazwischen pulsiert auch die ganze Wärme, ja umarmende Zärtlichkeit dieser Sprache, „wonnich“. Hochkomisch dagegen der Dialekt-Einsatz beim erz-bajuwarischen Pförtner der Münchner Kammerspiele. Aber auch hier: den Leuten sehr genau aufs Maul geschaut. Dafür nimmt man dann gelegentliche Längen und etwas überdramatisierte Passagen zwischendurch gern in kauf.
„Wir spielen“, lautet der letzte Satz dieses Buchs, und es sagen ihn Jörg Hartmanns noch kleine Kinder, die ein Theaterstück für ihn aufführen. Schon sein Vater hatte Freude daran, den Narren zu spielen, und er hat, was der Sohn erst spät entdeckt, auf diese Weise nie aufgehört, dem Kind in sich Raum zu geben. Dazwischen hat sich Hartmann verortet, auf eine nachdenkliche, gewinnende Weise.