Herdecke. Liebgart Grandi feiert 100. Geburtstag. Seit 75 Jahren lebt sie in Herdecke. Nach dem Krieg kam sie über Volmarstein in die Stadt.

Liebgart Grandi sitzt auf der Couch in ihrem Wohnzimmer. An der Wand über ihr hängt ein großes Ölgemälde. Sie hat es selbst gemalt. Es zeigt Wien, ihre Geburtsstadt. Am 8. Februar 1924 kam sie dort zur Welt. Zuhause ist die Seniorin aber in Herdecke. Hier feiert Liebgart Grandi heute auch ihren 100. Geburtstag – zusammen mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln.

Haushalts- und Handelsschule

„Wenn ich ihnen alles erzähle, dann brauchen wir lange“, sagt Liebgart Grandi und lächelt. Und dann beginnt sie aus einem ganzen Jahrhundert Leben zu berichten. Aus ihrem ganz persönlichen Jahrhundert. Sie erzählt von ihrer Zeit auf der Haushaltsschule, die sie mit 15 besuchte. Von der Handelsschule, wo sie Steno- und Maschinenschreiben lernte. Von den Jahren, in denen sie als Stenotypistin bei Gericht gearbeitet hat. Und auch von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie 1945 im Viehwaggon eines Zuges nach Kassel fuhr und an Wetter-Volmarstein vorbeikam. „Volmarstein – das war ein Wort, das habe ich mir sofort gemerkt“, erinnert sich die dreifache Mutter und elffache Oma bzw. Uroma. Die Gegend habe sie an Tirol erinnert, der Heimat ihres Vaters. „Ich habe Volmarstein gesehen und gedacht: Da könnte ich mal hinfahren.“

Über die zerbombte Ruhrbrücke

Es dauerte nicht lange, da setzte sie den Gedanken in die Tat um. Liebgart Grandi traf am Bahnhof in Wetter ein, lief von dort aus über die Ruhrbrücke. „Ich weiß noch, ich musste über viele Löcher springen. Die hatten die Bomben hinterlassen“, blickt Liebgart Grandi zurück. Sie verschlägt es nach Herdecke, den Ort, der nun seit 75 Jahren ihre Heimat ist. Die erste Nacht bleibt sie im Hotel gegenüber dem Rathaus (heute Heimatherz Hotel garni). Sie arbeitet als Küchenhilfe und Köchin, etwas später als Kindermädchen. „In einem Jahr habe ich an vier Orten in Herdecke gelebt“, sagt Liebgart Grandi.

Rimini, Mallorca, Herdecke

Einer dieser Orte war ein Wochenendhäuschen Am Jollenstein. Ein anderer ist die Straße Im Kleff. Dort lebte die Herdeckerin mit ihrem Mann Felix Grandi, den sie 1947 heiratete. Hier erlebten auch die drei Töchter Liebgart, Angelika und Monika einen Teil ihrer Kindheit, bis die Familie in die Wohnung umzieht, in der die Jubilarin auch heute noch lebt. Aus Herdecke wegziehen, das würde sie „nie im Leben“, sagt sie sofort. Aber verreist ist sie gerne. Als ihr Mann noch lebte, ging es nach Rimini, zu Silvester an die Mosel oder auch mal mit den Enkeln nach Mallorca.

Viel Glück gehabt

„Ich habe viel Glück gehabt im Leben“, weiß die 100-Jährige. Auf die Frage nach ihrem Geheimrezept für ein hohes Alter sagt sie: „Früh aufstehen und sich keinen Stress machen“. Und: „Ich habe nie ein Auto gehabt, bin viel zu Fuß gegangen und habe selbst gekocht.“ Kochen, das macht sie auch heute noch gerne. Und backen. Jedes Jahr zu Weihnachten gibt es ihre Vanillekipferl. Ihre Töchter kommen zu Besuch, um zu helfen, wenn Unterstützung gebraucht wird, aber auch zum gemeinsamen Kaffeetrinken. „Unsere Familie ist intakt“, sagt Liebgart Grandi glücklich und auch stolz. 22 Familienmitglieder kamen Weihnachten zusammen. Für die Enkelkinder schreibt Liebgart Grandi jetzt ihr Leben auf. „Oma, erzähl mal“, heißt das Buch, in dem die Herdeckerin in akkurater Handschrift ihre Lebensgeschichte festhält. Und zu erzählen hat sie viel - aus einem ganz persönlichen Jahrhundert.