Wetter. Jahrelang waren behinderte Kinder in einem Heim der ESV Opfer von Gewalt und Erniedrigung. Die Stiftung hat sich dem gestellt - und gelernt.
Viel mehr Fälle als gedacht – das hat die gerade vorgestellte Missbrauchsstudie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland ergeben. Alles viel schlimmer als gedacht – so ging es aus dem Abschlussbericht über das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein hervor, der vor anderthalb Jahrzehnten vorgelegt wurde. Wichtiges Material stand den Forschern nicht zur Verfügung, beklagten diese vorige Woche bei der Vorstellung der Missbrauchsstudie. Viel zu hemdsärmelig und unvollständig angepackt, schallte es dem damaligen Vorstand der Evangelischen Stiftung Volmarstein (ESV), Ernst Springer, bei seinem ersten Aufarbeitungsversuch der ungeheuerlichen Vorgänge im Johanna-Helenen-Heim entgegen. In der Stiftung müssten einige Erinnerungen wach geworden sein an einen schmerzlichen Aufarbeitungsprozess. Allerdings hat die ESV nun gegenüber der Evangelischen Kirche von Deutschland insgesamt einen gehörigen Vorsprung.
Auslöser für die Aufarbeitung in Volmarstein war das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski. In einem Leserbrief an die wöchentlich erscheinende Kirchenzeitung „Unsere Kirche“ schrieb Helmut Jacob aus Wengern von der „Hölle von Volmarstein“, die er und andere als Kinder im Heim erlebt hätten. Die Wogen schlugen hoch. Ernst Springer versuchte es mit einer Aufarbeitung, wurde aber nicht akzeptiert. Helmut Jacob gründete die Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim 2006 und sammelte Zeugenberichte ein. Springers Nachfolger als theologischer Vorstand, Jürgen Dittrich, stellte sich der Aufgabe. Die Stiftung beauftragte die Historiker Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler. 2010 erschien ihr Report unter dem Titel „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967.“
Keine „Nestbeschmutzer“ mehr
Jürgen Dittrich schreibt im Vorwort: „Mit diesem Buch wird ein dunkles Kapitel in der Geschichte unsere Evangelischen Stiftung Volmarstein aufgeschlagen. Dies zu erkennen, war ein mühsamer Weg. Ganz unglaublich klangen für viele zunächst die Geschichten von den geschundenen Kindern in Volmarstein. Diakonissen, besonders einem christlichen Weltbild verpflichtet, sollten Schutzbefohlene mit Gewalt überzogen haben, die gleich mehrfach zu den besonders Schutzwürdigen zählten – als Heimkinder, als Kinder mit körperlichen Behinderungen. Und doch waren die Betroffenen am Ende des Aufarbeitungsprozesses froh, nicht mehr als „Nestbeschmutzer“ abgetan zu werden, sondern als Zeugen und Opfer von schlimmer Gewalt, weit über Einzelfälle hinaus.
In erster Linie geht es auf den über 300 Buchseiten über die „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“ nicht um sexuelle Gewalt. Aber sie taucht auf neben den Schilderungen von Schlägen und Züchtigungen und Ausgrenzung der Kinder und Jugendlichen in Volmarstein. Einem ganz speziellen Fall ist ein eigenes Unterkapitel in der Historiker-Expertise gewidmet. Im Mittelpunkt der Affäre vom Ende der Sechziger Jahre steht der damalige Leiter der Oberlinschule. Das Historikergespann spricht von einem „handfesten Skandal“. Der Schulleiter verging sich an damals zehn- bis dreizehnjährigen Mädchen, in mindestens einem Fall auch an einem Jungen. Aufgefallen war das Ganze, weil der Schulleiter mit Geldgeschenken seine Opfer zum Schweigen bringen wollte. Die sollten nun auf einmal erklären, woher ihr Reichtum stammte. Und tatsächlich fand sich eine Lehrerin, die den Mädchen Glauben schenkte.
„Notfallkarte“ für Grenzüberschreitungen
Eines der Opfer gibt auf den Internetseiten der Freien Arbeitsgruppe folgenden Bericht: „Er hat angefangen mit harmlosen Doktorspielchen, um einfach mal zu gucken. Ist dann aber relativ schnell bis zum Ende vorgedrungen. Die eine hat er nur geknutscht, mit einer anderen hatte er auch Geschlechtsverkehr gehabt. Und es war ihm egal, ob Junge oder Mädchen.“ Im Juni 1969 verurteilte das Landgericht Hagen den Schulleiter wegen „Missbrauchs zur Unzucht, schwerer Kuppelei, Anstiftung zur schweren Unzucht und gleichgeschlechtlichen Verkehrs mit Minderjährigen“ zu sechs Jahren Haft. Nach Auskunft der ESV-Pressestelle hat es im Zusammenhang mit der hiesigen Stiftung kein weiteres Gerichtsverfahren wegen Missbrauchs gegeben.
Damals sollte möglichst wenig nach außen dringen. „Eine psychologische Betreuung der betroffenen Kinder war nicht vorgesehen“, heißt es in dem Historiker-Buch. Heute, noch einmal geschärft durch die Erkenntnis der Gewalt und ihrer Spätfolgen für die Kinder, ist das anders. Auf der „Notfallkarte Sexuelle Grenzüberschreitungen“ der ESV ist die Hilfe im Nachklang von Übergriffen ein fester Punkt.