Wetter. Gewalt gegen körperbehinderte Kinder soll Geschichte bleiben. Das tun Betroffene und die ESV in Wetter dafür
Die Schilderungen schockieren heute genauso wie vor anderthalb Jahrzehnten: Kinder mit körperlichen Behinderungen, Schutzbefohlene mit besonderem Bedarf, werden in unvorstellbarer Weise von Schwestern gequält, erniedrigt und ihrer Würde beraubt. Helmut Jacob, selbst Opfer, der die Aufarbeitung dieser schrecklichen Zustände in der Vorgängereinrichtung der Evangelischen Stiftung Volmarstein ins Rollen gebracht hat, ist seit fünf Jahren tot. Wie steht es heute um die Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim, die sich um Öffentlichkeit und Wiedergutmachung bemüht hat?
„Streng genommen hat die Gruppe sich aufgelöst“, sagt Klaus Dickneite. Auf den Seiten der Arbeitsgruppe im Internet steht er immer noch als zweiter Vorsitzender. Ein Nachruf auf Helmut Jacob, den Initiator und langjährigen Kopf der Gruppe, ist hinzu gekommen. Ansonsten ist es bei der Dokumentation des Schreckens geblieben, die so umfassend war, dass im Laufe der Aufarbeitung weitere Homepages nötig waren, um all die Geschichten aufzunehmen, die Opfer aus den frühen Nachkriegsjahren zu erzählen hatten. Darunter sind die Schreckensberichte von Helmut Jacobs ebenso wie die Erinnerungen von Klaus Dickneite. Um Schikane von Kindern geht es, um böswillige Unterstellungen und immer wieder um hemmungslose Gewalt.
Wiedergutmachung läuft
Für Dickneite ist der Kampf 2017 weiter gegangen. Und bis ins letzte Jahr hinein hat er Interessenpolitik für die misshandelten Kinder in Behindertenheimen gemacht. Vom Familienministerium berufen, hat er sich im Fachbeirat für die Wiedergutmachung als einer von drei Betroffenen-Vertretern „nicht unwesentlich an guten Entwicklungen beteiligt“, wie er rückblickend sagt. Bis letzten Juni konnten sich Opfer melden und Ansprüche anmelden. In jedem Bundesland gab es eigene Anmeldestellen. In Niedersachsen, Dickneites heutigem Heimatland, seien 90 Prozent der Anträge „problemlos durchgegangen“, berichtet er von Menschen, die körperbehindert oder psychisch erkrankt waren und nun für erlittene Misshandlungen entschädigt werden.
Maximal 9000 Euro haben die Opfer zu erwarten. „Mehr war nicht drin“, sagt Klaus Dickneite. Immer wieder hat er allgemeines Bedauern vernommen. „Aber wenn’s um Mark und Pfennig geht, wird geknausert wie auf dem Basar.“ Von einem Tropfen auf den heißen Stein spricht er angesichts der Entschädigungssummen für den Einzelnen und fragt: „Was lässt sich damit heute noch wieder gut machen?“ Fast nichts, sagt er selbst und ist doch froh, dass nach der ersten Diskussion über Misshandlungen von Heimkindern nun auch die Heimkinder mit körperlichen Behinderungen mit in den Blick gekommen sind. In Wetter war das früh der Fall.
Keine Nestbeschmutzer mehr
Helmut Jacob hatte dafür gesorgt. Auf einen Artikel von 2006 in der kirchlichen Wochenzeitschrift „Unsere Kirche“ hatte er mit einem Leserbrief reagiert und zunächst unvorstellbare Zustände in der Volmarsteiner Einrichtung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren angeprangert. In der Folge stapelten sich bei Jacob die Berichte von anderen Opfern der „Hölle von Volmarstein“, so die Überschrift des Leserbriefes in dem kirchlichen Blatt. Die Evangelische Stiftung Volmarstein schließlich schaltete zwei Historiker ein, die in einem Buch zu einem niederschmetternden Ergebnis kamen: Es war noch schlimmer, als zu erwarten gewesen war. Aber plötzlich standen die Betroffenen nicht mehr wie Nestbeschmutzer da. Ihre Stimme hatte Gewicht.
Der Auftrag an die Historiker geht stark auf den damaligen theologischen Vorstand Jürgen Dittrich zurück. Und für diesen spart Klaus Dickneite nicht mit Lob. Dessen Einbeziehung der Betroffenen, aber auch der Beschäftigten sei eine „tolle Geschichte gewesen.“ Gerade weil er als Mitglied des Fachbeirates bei der Wiedergutmachung einen Blick weit über die Region hinaus werfen konnte, kann er sagen: „Von einer Entwicklung wie in Volmarstein habe ich nirgendwo gehört.“
Die Benennung eines neuen Hauses nach dem damals noch lebenden Opfer Marianne Behrs fällt ihm ein, aber auch, dass es Jürgen Dittrich nicht um steinerne Mahnmale gegangen sei, sondern um gelebte Besserung. Gerade weil Dittrich aber nicht mehr im Amt ist und es auch keine theologische Spitze der ESV mehr gibt, zeigt sich Dickneite besorgt, wie viel von diesem Ansatz übrig geblieben ist. (Die aktuelle Antwort der ESV findet sich in dem Zweittext auf dieser Seite).
Der Situation von Heimkindern allgemein heute stellt Dickneite kein gutes Zeugnis aus. „Es gibt heute ganz ähnliche Gewalt“, zeigt sich das Opfer der Gewalt von kirchlichen Schwestern überzeugt, vielleicht sei diese Gewalt nur nicht mehr so öffentlich. Sein Vorwurf: Obwohl es Gesetzesänderungen zum Schutz der Schutzbefohlenen gegeben habe, „kümmert sich kein Mensch darum“. Grund dafür aus seiner Sicht ist vor allem die „wieder so kritische Personalsituation“ wie damals. Der Bedarf an Pflege steige ständig, der zu bewältigende Verwaltungskram auch und entsprechend die Überforderung.
>>> ESV bleibt wachsam bei Gewalt gegen Schutzbefohlene
Leben und Leiden der Heimkinder im Johanna-Helenen-Heim in den 1950er und 1960er Jahren sind und bleiben ein wichtiges und aktuelles Thema für die ESV. So die Einrichtung auf Anfrage der Redaktion. Das gelte für die Bereichsleitungen, aber auch für die bald besetzte Leitung des „Zentrums für Theologie, Diakonie und Ethik.“ Es wurde geschaffen, nachdem das Amt des theologischen Vorstands nicht mehr besetzt worden ist. Gerade vom theologischen Vorstand Jürgen Dittrich war die Aufarbeitung der Heim-Geschichte voran getrieben worden.
Die ESV verweist auf die Benennung des jüngsten Kinderheims in Volmarstein nach Marianne Behrs, einem Opfer. Bilder im Eingangsbereich erinnerten zudem an „das dunkle Kapitel unserer Geschichte.“ Auf ihrer Internetseite beschreibt die Stiftung die Aufarbeitung dieser Kapitel, und auch das Buch „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“ stehe auf der Homepage der ESV zum freien Herunterladen bereit. Auch würden beim Willkommenstag für neue Mitarbeitende die Aufarbeitung angesprochen und Maßnahmen zur Gewaltvorbeugung erläutert.
Um heute und in Zukunft Gewalt in jeglicher Form zu verhindern, sei die Gewaltprävention im Alltag der ESV fest verankert. Fortbildungen, Fachtagungen, spezielle Weiterbildungen und die Ombudsstelle der ESV gehörten zum Alltag in den Einrichtungen der ESV. Zuletzt 70 Mitarbeitende hätten beim jährlichen Fachtag Gewaltprävention diskutiert. Wie ernst die Gewaltvorbeugung in der Stiftung genommen werde, zeige auch die Zahl der Deeskalationstrainer. Sie sei von 4 auf 19 gestiegen.
Gewalt gegen Kinder
Unter dem Titel „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“ ist 2010 ein Buch über das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967 erschienen.
Autoren sind Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler.
Sie dokumentieren die „erschreckend harte und lieblose, teilweise offen gewalttätige Behandlung“ der Kinder.