Wetter. Menschen mit Behinderungen haben Jürgen Dittrich (65) tief beeindruckt. “Ihre Lebensbejahung ist wie ein Geschenk“, sagt er im Gespräch
Anderthalb Jahrzehnte stand Pfarrer Jürgen Dittrich an der Spitze der Evangelischen Stiftung Volmarstein. Was war ihm wichtig? Wo hat sich die ESV verändert? Wie geht es weiter, auch für ihn?
Sie sind theologischer Vorstand der ESV. Gibt es so etwas wie einen verbindenden "Geist" in den vielen verschiedenen Einrichtungen der Stiftung?
Jürgen Dittrich: Diakonische Einrichtungen wie die ESV sind meist von prägenden Persönlichkeiten gegründet worden. Bei uns hat Pfarrer Arndt vor 117 Jahren den pastoralen, den evangelischen „Spirit“ hineingetragen. Das zieht sich bis heute durch die Einrichtung. Wir versuchen, das in den Häusern deutlich werden zu lassen mit beschäftigten Diakonen und Diakoninnen, mit Seelsorgerinnen oder seelsorgerischen Gesprächsangeboten und Gottesdiensten. In der Satzung, im Leitbild, in den unterschiedlichen Konzepten wird immer wieder Bezug genommen auf unser diakonisches Grundverständnis. Das war und ist mir wichtig: Wir verstehen den Menschen als Geschöpf Gottes und sehen im Menschen das Ebenbild Gottes. Darin sind Lebensrecht und Würde unverlierbar begründet. Und das gilt für alle gleichermaßen, für Menschen mit und ohne Behinderung.
Wie erfolgreich ist die Kampagne, die ESV als eigene Marke unter den Arbeitgebern zu präsentieren? Motto, ich als Angestellter stifte...
Die Kampagne ist noch zu frisch, um hier endgültige Antworten zu geben. Aber es ist hilfreich, dass wir die Marke mit den Mitarbeitenden zusammen entwickelt haben. Dabei konnten wir erfahren, dass es vielen wichtig ist, dass wir eine evangelische Stiftung und festgelegten Zielgruppen zugewandt sind: Menschen mit Behinderung, Menschen, die alt sind oder krank, Menschen, die ein besonders herausforderndes Verhalten zeigen etc.. Ich für mich kann sagen, dass ich sehr viel von diesen Menschen mit Behinderungen gelernt habe wie etwa die Fröhlichkeit trotz der vielen Einschränkungen. Diese Lebensbejahung ist schon sehr beeindruckend und wie ein Geschenk.
Lebensqualität, Gesundheit, Beweglichkeit geben ESV-Mitarbeiter bei der Plakat-Kampagne an. Was sollte unter einem Bild von Ihnen stehen, was "stiften" Sie?
Ich würde Gemeinschaft stiften wollen, dass man sich mit dem identifizieren kann, was man tut. Beim Blick zurück auf fast 40 Jahre Berufserfahrung war mir immer sehr wichtig, in dem, was ich tue, Sinn zu sehen und Zufriedenheit zu finden. „Ich stifte Gemeinschaft durch Ziele“ - … wenn man Ziele erkennt und sie gemeinsam verfolgt, weil sie als wichtig angesehen werden, dann stiftet das Gemeinschaft.
Hat sich in den letzten Jahren das Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft geändert?
Ich finde ja. Da ist sehr viel geschehen, was sich in neuen Rahmenbedingungen, in Gesetzen, in Vorgaben etc. wieder findet. Die UN-Behindertenrechts-Konvention ist da sicherlich ein grundlegender Meilenstein, wobei allen Beteiligten klar war, dass die Umsetzung ein langer zeitlicher Prozess ist. Die Gesellschaft ist für Fragestellungen, die eine Behinderung für den Einzelnen bedeutet, empfindsamer geworden. Menschen mit Behinderungen sollen nicht mehr konzentriert in Einrichtungen leben, sondern sind Teil der Gesellschaft. Kleinere Wohneinheiten vor Ort mittendrin tragen dazu bei. Das trägt zur Normalität des Zusammenlebens von Behinderten und Nicht-Behinderten bei. Daraus könnte man folgern, dass die Gesellschaft offener geworden ist gegenüber dem Thema Behinderung. Auf der anderen Seite kenne ich aber auch den Druck, den Eltern spüren, wenn ihr Kind möglicherweise mit Behinderungen zur Welt kommt. Mein Respekt ist da sehr groß vor Eltern, die sich für ein solches Kind entscheiden und damit nicht den „einfacheren“ Weg gehen.
Konzeptionell und wirtschaftlich - ist die ESV noch die selbe, die Sie 2006 vorgefunden haben?
Wir sind in dieser Zeit ungefähr drei Mal so groß geworden, vom Umsatz her wie von den Mitarbeiterzahlen. Das enorme Wachstum kommt vor allem durch die Übernahme des Krankenhauses in Haspe. Wir haben über die Jahre den medizinischen Bereich ausgebaut, so dass wir viel breiter aufgestellt und keine reine Behinderteneinrichtung mehr sind. Als besonders gelungen sehe ich den Ausbau der Behinderten-Medizin am Standort Haspe an.
Wie steht es damit, behinderte Erwachsene dezentral und extern wohnen zu lassen statt auf dem Stiftungsgelände?
Von der Zielsetzung verfolgen wir diese Ambulantisierung weiter. Die Umsetzung ist allerdings nicht ganz einfach. Vor dem Freiziehen von Häusern auf dem Stiftungsgelände brauchen wir Ersatz, neue gesetzliche Vorgaben werfen uns ebenso manchmal zurück, weil auf einmal die Fördervoraussetzungen zum Bau eines neuen Hauses sich relativ kurzfristig ändern. Zum großen Teil haben wir aber das Ziel dennoch erreicht. Das Stiftungsgelände wird sich in den nächsten fünf Jahren sehr verändern.
Wie ist der aktuelle Stand bei der Beteiligung an Krankenhäusern in Dortmund und hat sich das als der richtige Weg herausgestellt?
Damals haben wir die Disziplinen dieser Häuser im Rahmen unseres Wachstums für sehr sinnvoll angesehen, Psychiatrie zum Beispiel. Aber das war einfach zu viel. Das Haus in Lütgendortmund hat dann die Knappschaft übernommen, und wir haben uns auf die Orthopädie konzentriert hier in unserem Stammhaus in Volmarstein und dazu das Haus in Hörde weiter entwickelt. Mit der „Filiale“ in Dortmund haben wir ein neues Klientel für uns erschlossen und dort jetzt einen guten Ruf.
Ist die "Aussöhnung" mit den Opfern der Misshandlungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit abgeschlossen?
Aus meiner Sicht ist der Prozess für Volmarstein abgeschlossen. Er hat viel Kraft und viel Nerven gekostet. Aber man muss auch verstehen, was diese Menschen als Kinder damals erlitten haben in einer sicherlich schwierigen Nachkriegszeit und dem beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung.
Was es der richtige Weg, nicht auf Denkmale aus Stein, sondern auf einen Denkprozess zu setzen und die Gefahr von Gewalt in der Pflege zu einem Ausbildungsthema zu machen?
Ich bin dankbar dafür, dass ich als Neuer damals diesen Weg gehen konnte. Dabei hat mich besonders Marianne Behrs beeindruckt. Mit dieser Frau habe ich viel gesprochen, sie hat in der Fortbildung Mitarbeitenden gesagt, wie die Zeit damals war. Für mich ist Marinna Behrs beim theologischen Begriff der Versöhnung, der Aussöhnung, Vorbild. Wie sie uns verziehen hat, wie sie der Einrichtung verziehen hat, das hat mich sehr beeindruckt.
Sie hatten in Wetter nur einen Zweitwohnsitz. Wohin in der Stadt werden Sie Ihre Familie mitnehmen, wenn Sie gelegentlich mal an die alte Wirkungsstätte zurückkehren?
Zuerst würde ich an den Rand von Wetter gehen: an den Hengsteysee. Das ist meine Laufstrecke. Auch den Harkortsee finde ich interessant, fürs Fahrradfahren und für Spaziergänge. Dann würde ich durch Alt-Wetter gehen und auch hier durch Volmarstein. Das ist ein schönes, gepflegtes Dorf mit Bürgern, die sich sehr stark identifizieren mit dem Ort und auch mit seinen Problemen.
Die Stadt Wetter ist bei der Inklusion weit vorn, die Rolle der ESV dabei unübersehbar - gibt das Ansporn, vorne zu bleiben in diesem Veränderungsprozess?
Als das Heimkinder-Thema wissenschaftlich abgeschlossen war, war der Boden bereitet und wir konnten die Behindertenrechtskonvention angehen. Die Auftaktveranstaltung 2008 hat mich tief beeindruckt und unwahrscheinlich motiviert. Am Prozess „inklusive Stadt Wetter“ haben dann ganz viele Mitarbeitende der ESV und Bewohnerinnen und Bewohner mitgearbeitet. Dass wir in Wetter den ersten kommunalen Inklusionsplan entwickelt haben, hat Eindruck gemacht. All das ist Ansporn für die ESV, in allen Bereichen der Stiftung und ihren Gesellschaften, neue Entwicklungen aufzugreifen und ganz vorne mitzuspielen, um es einmal mit dem Bild des Sports zu sagen.
Ihre Nachfolgerin ist - erstmals - eine Frau. Das war auch mal an der Zeit, könnte man meinen. Aber sonst scheint mir die Spitze der ESV eine Männerdomäne geblieben zu sein…
Ich bin dankbar sagen zu können, wir haben jetzt eine Frau an der Spitze, die gemeinsam mit dem kaufmännischen Vorstand die hauptamtliche Leitung abbildet. Aber wir haben auch in den Bereichsleitungen mehrere Frauen. Lange Zeit war es nur eine Frau in der Bereichsleitung, dann kam vor drei Jahren eine zweite hinzu, mittlerweile sind es doppelt so viele. Im Ergebnis haben wir auf der zweiten Ebene 30 - 35 Prozent Frauen. Immerhin! Das sind gut ausgebildete Leute, und ich bin ein wenig stolz darauf, dass wir Frauen berufen haben, die unser eigenes Leitungsprogramm durchlaufen haben. Wir haben hier „Eigengewächse“ bekommen. Da kann zwar noch mehr geschehen, aber wir sind auf einem guten Weg.
Zur Person: Jürgen Dittrich
Alter: 65 Jahre
Familie: verheiratet, vier Kinder im Erwachsenenalter
Von 1982 bis 1992 war er Vikar und Gemeindepfarrer in Erkrath-Hochdahl. 1992 bis 2006 führte er die Geschäfte des Diakonischen Werkes der Lippischen Landeskirche in Detmold. Seit 2006 war er theologischer Vorstand der ESV.
Für den Ruhestand hat er das Arbeitszimmer im Haus neu eingerichtet. Mehr eine Bibliothek ist es geworden. Bücher zum Lesen liegen bereit. Und Jürgen Dittrich will intensiv schwedisch lernen, da er in Schweden ein Haus und einen Bruder hat.
Kurz und knapp
An der Pandemie bedrückt mich am meisten ... die Anzahl der Toten. Die finde ich schon sehr erschreckend.
Wenn wieder mehr erlaubt ist, freue ich mich besonders, … dass ich nicht mehr mit Maske herumlaufen muss und wir in der ESV endlich unser Betriebsfest feiern dürfen.
Corona hat mir gezeigt, … wie empfindsam doch das Leben ist.