Herdecke. Das frühere Seniorenhaus von Convivo ist jetzt eine Spezialpflegeeinrichtung der ESV. Für die Nachbarn ist der Wechsel kaum auszuhalten.
Schreie, schreckliche Schreie verunsichern und bedrücken Anwohner der früheren Parkanlage Nacken. „Als wenn ein Mensch abgeschlachtet würde“, sagt eine Nachbarin über die stete Geräuschkulisse aus dem Heim, das seit einigen Wochen schwerstpflegebedürftige Menschen beherbergt. Bis Juni lebten hier Senioren. Da war die Welt noch in Ordnung für Ulrich Vennegeerts. Jetzt denkt er an Wegziehen. „Was soll ich meinen Kindern sagen, wenn ich die Autotüre aufmache und mein Kind als erstes fragt: Mama, warum schreit da wieder so ein Mensch?“
Das Ehepaar Vennegeerts hat sich an Bürgermeisterin Dr. Katja Strauss-Köster gewandet, und die hat am nächsten Tag Vertreter der Ratsfraktionen mitgebracht zum Nacken. „Es ist laut und belastend“, sagt eine Anwohnerin des Millöcker Weges, „man meint, man müsste helfen, und kann es gar nicht“, sagt eine andere. „Die Schreie sind echt heftig“, fährt die Nächste fort.
Ausdruck der Eingewöhnung
Während die Anwohner beschreiben, was ihnen bei Tag und mit Besuch auf der Terrasse oder nachts beim Ringen um Schlaf in die Ohren dringt, müssen die Ratsvertreter gar nicht erst ihre Vorstellungskraft bemühen: Unablässig sind die Schreie von der nahen Vitus-Höhe zu hören. So will die Evangelische Stiftung Volmarstein das von ihr übernommene Heim nennen. Namensgeber Vitus ist der Schutzpatron der Menschen mit Chorea-Huntington. Viele der neuen Bewohner am Nacken haben dieses Krankheitsbild.
Hier beginnt das Problem für die Bürgermeisterin und auch für die Parteivorsitzende der CDU, Doris Voeste. Die ESV habe angekündigt, vorübergehend und für die Zeit des Umbaus in Vormarstein die Spezialpflege am Nacken unterzubringen. Von einer dauerhaften Umnutzung sei sie jedenfalls nicht ausgegangen, sagt Katja Strauss-Köster. Aktuell prüfe die Verwaltung, ob das ohne einen entsprechenden Umnutzungsantrag überhaupt zulässig sei. Doris Voeste, die früher mal des Planungsamt der Stadt geleitet hat, ist mit ihrer Abwägung schon weiter. Angesichts einer solchen Umnutzung sei die ESV in einer „Bringpflicht“ gewesen, sagt sie.
Ulrich Vennegeerts hat sich mit einer Mail an die ESV gewandt. Als einziger in der Runde der Nachbarn, die zum Gespräch mit der Politik und der Presse gekommen sind. Beim Heimbetreiber würde man bestimmt nur abgewimmelt, glaubt Lore Kleimann. Wie viele ihrer Nachbarn auch zeigt sie Mitleid für die Bewohner und ihre chronischen Erkrankungen. Und doch ist für einige klar: Diese schwerstpflegebedürftigen Menschen müssen untergebracht werden, wo ihr Schreien nichts ausmacht. Also nicht am Nacken mit dieser großen Nähe zur Wohnbebauung.
Die ESV erklärt das Schreien in dieser Stärke als Ausdruck der Eingewöhnung. „Für unsere Bewohner ist das eine neue Lebenssituation. Alles ist unbekannt und aufregend“, sagt Astrid Nonn aus der Pressestelle. Sie wirbt um Verständnis und Geduld und ist sicher, dass sich die Situation beruhigen wird. Ein „Tag der Offenen Tür“ soll zur guten Nachbarschaft beitragen. Der Anwohnerbitte, doch wenigstens die Fenster zu schließen, will sie nicht folgen: Auch schwerst Erkrankte hätten ein Recht auf ein würdiges Leben, dazu gehöre, auf Wunsch bei offenem Fenster zu schlafen.
„Das Problem ist da, und es ist erkannt. Jetzt wird man reden müssen“, sagt Christopher Huck, Ratsmitglied der FDP. Am 21. September soll dazu in Rat Gelegenheit bestehen und vorher schon im Bauausschuss. Und sollte sich schneller etwas ergeben, beispielsweise bei der Rechtsprüfung der Umnutzung, will die Bürgermeisterin schon früher die Anwohner unterrichten. Sie hat verstanden: Da ließe es sich wohl besser an einer Autobahn leben als mit den immer wieder überraschenden Adrenalin-Stößen wegen der Spezialpflege nebenan. Zum Gewöhnen sei diese Art Geräusche auf keinen Fall. „Bei solchen Schreien geht wohl eher der Blutdruck auf Dauer hoch.“