Herdecke. 50 Mieter der Servicewohnungen in Kirchende sind von der Convivo-Insolvenz betroffen. Nun bangen sie um ihre Wohnungen.

Doris Mendel. Marlies Klier. Norbert Hartung. Marianne Wanna. Vier Namen. Vier Lebensgeschichten. Eines eint sie. Die Sorge um ihre Zukunft, denn sie alle wohnen in Servicewohnungen im Seniorenhaus Kirchende.

Nicht aufgeben

Seit acht Jahren lebt Doris Mendel in ihrer Wohnung am Kirchender Dorfweg. Die 91-Jährige ist flott unterwegs. Innerhalb der Wohnung lässt sie den Rollator meist stehen, so wie jetzt, als es an der Tür klingelt. Ihr 93-jähriger Nachbar Norbert Hartung steht davor. Sie lässt ihn hinein. Gemeinsam mit der 84-jährigen Marlies Klier haben sie sich an dem Tisch im Wohnzimmer versammelt. Mendel steht noch einmal auf, holt Mineralwasser für ihre Gäste. Dass sie kaum noch etwas sieht, ist ihr nicht anzumerken. Routiniert geht sie in die Küche, holt eine Flasche. Sie kennt sich eben genau aus in ihrer Wohnung. Sie weiß, wo alles steht und findet sich zurecht. Alles ist auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Einer der Gründe, warum sie nicht hinnehmen will, was gerade passiert.

Informationen aus der Zeitung

„Wir haben aus der Zeitung und dem Internet erfahren, dass auch wir hier in den Wohnungen von der Insolvenz betroffen sind. Vorher gab es kein Wort darüber, weder von der Insolvenzverwaltung noch von der Heimleitung“, berichtet Mendel. Nichts von offizieller Seite. Am Donnerstag vor Ostern kam dann ein Brief vom Insolvenzverwalter an. Nicht persönlich an sie gerichtet, sondern eine Wurfsendung an alle Bewohner des Hauses. Betreff: „Mitteilung über Eröffnung eines Insolvenzverfahrens für die Gesellschaft: Pflegezentrum Herdecke GmbH dadurch betroffene Betriebseinheit Seniorenhaus Kirchende“. Sachlich. Unpersönlich. Darin wird den Senioren mitgeteilt, dass das Insolvenzverfahren am 1. April eröffnet wurde, für einen Großteil der Betriebe neue Betreiber gefunden wurden. „In Bezug auf das Seniorenhaus Kirchende ist dies leider nicht der Fall. Da es auch keine potenziellen Investoren gibt, muss das Seniorenhaus Kirchende zu unserem Bedauern bis zum 30.06.2023 geschlossen werden.“ Und dann der Teil, der vielen Senioren den Boden unter den Füßen wegzog: „Wir werden daher auch die Versorgung der von Ihnen gemieteten Servicewohnung über den 30.06.2023 hinaus nicht aufrechterhalten, beziehungsweise sicherstellen können.“

Neue Bewohner eingezogen

„Wir waren wirklich erschreckt, dass auch die Wohnungen hier nicht weitergeführt werden. Dabei sind am Donnerstag noch neue Leute eingezogen“, berichtet Marlies Klier. Die 84-Jährige ist gebürtige Herdeckerin. Sie lebt seit vier Jahren in der Servicewohnung, war vorher schon drei Jahre im Pflegebereich 2. „Ich fühle mich wohl hier“, sagt sie. Als ihr Mann vor vier Jahren verstarb, übernahm sie dessen Wohnung. „Das war damals die beste Entscheidung, die ich treffen konnte“, meint sie. Doch das Leben, das sie sich in Kirchende aufgebaut hat, sieht sie seit einigen Tagen schwinden. „Ich schlafe kaum noch“, erzählt sie traurig. Ständig kreisen die Gedanken darum, wie es weitergeht. Zwar habe ihr Sohn in Bochum zwei Wohnung und in eine könnte sie einziehen, aber: „Ich will nicht weg aus Herdecke.“

Andere Wohnungen sind zu teuer

Norbert Hartung ist 93 Jahre alt. Der rüstige Senior ist im Haus mit dem Rollator unterwegs, draußen fährt er inzwischen mit einem E-Scooter durch die Gegend. „Hier im Haus komme ich so überall hin. Aber woanders sind ständig Stufen oder Absätze, da komme ich dann nicht weiter.“ Er habe sich schon in anderen Einrichtungen umgehört. „Aber die Wohnungen da sind so teuer. Das kann doch keiner bezahlen“, sagt er. Außerdem hatte er sich vorgestellt, für immer in Kirchende zu bleiben und sagt ganz klar: „Mich kriegen die hier nicht raus.“ Das Trio könne sich problemlos vorstellen, Serviceleistungen über ambulante Pflegedienste, Essen auf Rädern und anderen anzunehmen. Wichtig sei, dass es einen Hausmeister gebe und jemanden, der sich um den Aufzug kümmert. „Und wir brauchen Strom und Heizung“, so Mendel.

Offener Brief an Verantwortliche

Die drei Senioren haben sich zusammengetan. Doris Mendel hat im Namen der Bewohner einen offenen Brief an die Verantwortlichen verfasst. Doch genau da beginnt das Dilemma. Wer ist denn eigentlich verantwortlich? Die Senioren fühlen sich allein gelassen. Informationen bekommen sie nicht, zumindest nicht von offizieller Seite. Mit dem Brief wollen sie auf ihre Lage aufmerksam machen. „Wir sind 80 bis 93 Jahre alt und wollen unsere letzte Lebenszeit hier verbringen. Es muss doch möglich sein, die Alteneinrichtung mit der mit Abstand besten Wohnlage in Herdecke zu erhalten. Wir hoffen, dass dies die Stadt oder der Kreis übernehmen oder sich ein anderer Investor findet, der das übernimmt. Wir freuen uns, wenn Flüchtlingen und Bedürftigen geholfen wird, aber auch wir Alten aus Herdecke brauchen jetzt Hilfe“, so der Hilferuf aus dem Brief.

Marianne Wanna hängt an ihrer Wohnung, doch sie hat die Hoffnung aufgegeben, bleiben zu können. 
Marianne Wanna hängt an ihrer Wohnung, doch sie hat die Hoffnung aufgegeben, bleiben zu können.  © Yvonne Held

Während die drei Senioren aus dem Erdgeschoss sich noch kämpferisch geben und zur Not mit ihren Rollatoren vor dem Rathaus demonstrieren wollen, sieht es ein Stockwerk darüber anders aus. Marianne Wanna lebt seit vier Jahren in der Servicewohnung. Die 88-Jährige hat ihr kleines Reich wunderschön und individuell eingerichtet. Ein neuer Boden, eine neue Küche, eine neue Wohnwand. Alles farblich aufeinander abgestimmt. Auf der Fensterbank blühen Blumen in bunten Farben. An den Wänden hängen Bilder ihrer Familie. Ein Ort zum Wohlfühlen. Doch Marianne Wanna sieht traurig und erschöpft aus. „Mir geht es nicht gut. Ich bin heute früh aufgestanden. Ich konnte einfach nicht mehr liegen bleiben“, gibt sie offen zu. Zu sehr kreisen ihre Gedanken. Herdecke, insbesondere Kirchende sei ihre Heimat. „Hier wohnen meine Kinder und Enkelkinder. Ich kann dort vorbeigehen, wenn ich das möchte. Dabei muss ich auch nicht jedes Mal klingeln. Aber ich weiß, sie sind da und in der Nähe“, sagt sie. Auch die Gemeinschaft im Haus gefällt ihr gut. Marlies Klier beispielsweise kennt sie schon aus Kindertagen. „Es ist nicht so, als wenn wir immer mit allen zusammen sitzen, aber wenn wir uns hier auf dem Flur treffen, unterhalten wir uns“, berichtet Wanna.

Hoffnung aufgegeben

Trotzdem teilt sie den kämpferischen Optimismus der anderen nicht. Sie hat keine Hoffnung, dass sie noch in der Wohnung bleiben kann. „Ich sehe mir heute mit meiner Tochter eine Wohnung an. Die ist teurer und hat keine Küche, aber was soll ich machen? Noch länger warten? Ich habe aufgegeben und bevor hinterher auch noch die jetzt freien Wohnungen an der Goethestraße weg sind, und ich irgendwo hingekarrt werde, wo ich gar nicht hin will, werde ich wohl dahin gehen“, berichtet sie mutlos. „Wir sind so oft jetzt enttäuscht worden. Eigentlich habe ich gedacht, dass ich hier irgendwann friedlich einschlafe“, erklärt Wanna mit traurigem Blick.