Herdecke. Der frühere Geschichtslehrer Willi Creutzenberg führt eine Gruppe durch seine Heimatstadt Herdecke, um das jüdische Leben von einst zu erläutern.
Wer mit dem ehemaligen Geschichtslehrer Willi Creutzenberg durch Herdecke spaziert, erfährt viel. Zum Beispiel über das Schicksal von Louis Marx. Ein jüdischer Vater, der sich Anfang Mai 1874 zur Wahl zum Schulrepräsentanten (heute eine Art Elternvertretung) an der evangelischen Schule in Herdecke aufstellen lässt. Er gewinnt die Wahl mit einer eindeutigen Mehrheit. Damit er aber mit seiner Arbeit als Schulrepräsentant beginnen kann, muss noch der Landrat in Hagen die offizielle Bestätigung geben. Der Landrat verweigert dies allerdings. Ein jüdischer Repräsentant an einer evangelischen Schule, das sei nicht tragbar. Also ordnet er Neuwahlen an.
Louis Marx aber lässt sich das nicht gefallen, kämpft um sein Recht und reicht Beschwerde beim preußischen Kultusminister in Arnsberg ein. Das Ministerium entscheidet schließlich, dass die Wahl von Louis Marx zum Schulrepräsentanten rechtens sei und setzt ihn wieder ein. Ein wichtiger Schritt für die Gleichberechtigung von Juden, so Creutzenberg. Die jüdischen Zeitungen seinen voll gewesen mit Berichten über den Fall Marx, der sich im kleinen Herdecke ereignete.
Bei einem Stadtrundgang „Auf den Spuren der jüdischen Familien und des jüdischen Lebens“ nahmen nun zwölf Interessierte teil. Creutzenberg skizzierte noch Schicksale weiterer Juden, die ihr Leben zu großen Teilen in Herdecke verbrachten. Und die Stadt verlassen mussten – auf der Flucht vor den Nazis oder weil aus Sorge, in Konzentrationslagern ermordet zu werden. Das jüdische Leben in Herdecke endet im April 1939 mit dem Weggang der letzten jüdischen Familie.
Friedhöfe als Schwerpunkte
Willi Creutzenberg versucht, die Leben aller, die Herdecke gezwungenermaßen für immer verlassen mussten, zu rekonstruieren. Die Führung beginnt am alten jüdischen Friedhof in der Bahnhofstraße an der Ecke zur Mühlsteinskuhle. Neben vielen Geschichten und Fakten rund um die erste jüdische Familie in Herdecke erfahren die Anwesenden, unter welchen Voraussetzungen Juden damals lebten.
Der Stadtrundgang führt die Teilnehmenden vorbei am Rathaus sowie am Kampsträter Platz zum jüdischen Teil des Friedhofs an der Zeppelinstraße und an viele ehemalige jüdisch bewohnte Häuser und Geschäfte. Nur noch die Stolpersteine erinnern vor den Gebäuden an ihre früheren Bewohner. Die Stimmung ist bedrückt, als Willi Creutzenberg von den Schicksalen der Menschen erzählt. Für die Anwesenden nur schwer vorzustellen, wie es sich angefühlt haben muss, damals gelebt zu haben.
Auch Bettina Berger nimmt am Rundgang teil, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie das Leben für Juden hier früher war. Das Judentum spiele in ihrem Leben schon immer eine große Rolle „Ich kommen aus einer Familie, die vom Judentum zum Christentum konvertiert ist. Und mein Vater hat sich schon immer sehr für die Kommunikation zwischen Christen und Juden eingesetzt. Ich halte es für wichtig, dass wir uns an die Vergangenheit erinnern und die Menschen, die hier einmal lebten und dem Holocaust zum Opfer fielen, nicht vergessen“, sagt Bettina Berger.
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Willi Creutzenberg beschäftigt sich schon lange mit dem Nationalsozialmus und dem Schrecken, den diese Zeit mit sich gebracht hat. Als ehemaliger Gesichts- und Politiklehrer recherchiert er während seiner Rente viel über das jüdische Leben in Herdecke. Viele Akten hat er seitdem gelesen, viele Archive durchsucht und mit vielen Angehörigen und Verwandten der Opfer gesprochen, so dass er bereits Bücher über das Thema veröffentlicht hat.
Woher kommt dieses Interesse? Dafür macht der Rentner seinen früheren Beruf verantwortlich, Geschichte und Politik haben ihn schon immer sehr fasziniert. Daher fand er auch in seiner Freizeit keine Ruhe und beschäftigte sich weiter mit dem Thema. Im Laufe der Zeit habe sich so viel Wissen angehäuft, dass er einen Stadtrundgang praktisch aus dem Gedächtnis heraus führt. Mit alten Bildern versucht er, den Teilnehmenden das Geschehen näher zu bringen. Einmal im Jahr lädt er zu einer Tour zum Thema jüdisches Leben in Herdecke ein.
Dabei handele es sich aber nicht um die einzige Führung: Über das Jahr verteilt bietet Creutzenberg weitere Veranstaltungen zu verschiedenen Themen an, geht mit Interessierten über hiesige Friedhöfe und lässt die Menschen teilhaben an der heimischen Vergangenheit.