Herdecke/Leipzig. Bürger aus Herdecke hoffen, dass das Bundesverwaltungsgericht den Bau der neuen Stromleitung von Amprion stoppt. Wie hoch ist die Erfolgschance?

Während sich manche Herdecker mit den neuen Masten zwischen dem Ortsteil Schnee und dem Herrentisch fast schon abgefunden haben, hoffen andere weiterhin, dass sie sich an diesen Anblick nicht gewöhnen müssen. An diesem Dienstag befasst sich das Bundesverwaltungsgericht Leipzig mit der Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss, wonach der Netzbetreiber Amprion die 380-Kilovolt-Höchstspannungsfreileitung von Dortmund-Kruckel über hiesiges Gebiet bis Hagen-Garenfeld bauen darf. Ein Überblick über die wichtigsten Aspekte.

Das Verfahren

Nach zwei Terminverschiebungen Ende 2019 (Krankheit eines Richters) und im Frühjahr (Corona) hat das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Anhörung jetzt für den 10. November angesetzt. Auf dem Prüfstand stehen der Beschluss und die Baugenehmigung der Bezirksregierung Arnsberg von Juli 2018: Bürger, die finanziell und inhaltlich Unterstützung von der Prozessgemeinschaft „Herdecke unter Strom“ erhalten, haben dagegen Klage eingereicht. Um nicht vermeintliche Zwischeninstanzen bemühen zu müssen, ist Leipzig mit entsprechenden Fach-Juristen bei solchen Einsprüchen zu Infrastrukturvorhaben die erste und letzte Instanz. An diesem Dienstag beginnt um 10 Uhr die öffentliche Anhörung. Während der Erörterung können die Beteiligten ihre Sicht der Dinge erläutern und voraussichtlich auch ihre Sachbeistände zu Wort kommen lassen. Vom Gericht sind keine Sachverständigengutachten beauftragt worden, heißt es auf Anfrage. Dem Vernehmen nach gehen viele Prozess-Beobachter davon aus, dass angesichts der langen Vorlaufzeit dieser Dienstag zur Bestandsaufnahme reicht.

Das Urteil

„Der Senat wird unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung und der dort ausgetauschten Argumente bewerten müssen, ob er an diesem Tag ein Urteil verkündet“, teilt das Bundesverwaltungsgericht auf Anfrage mit. Sollte das der Fall sein, geschehe dies in mündlicher Verhandlung. „In einer solchen Verkündung wird das Urteil auch – knapp – mündlich begründet.“ Sollte es jetzt nicht zu einem Urteilsspruch kommen, werde der Senat einen Verkündungstermin bestimmen. Den Vorsitz in der Verhandlung führt die Vorsitzende Richterin Kerstin Schipper (Jahrgang 1964), 2008 zur Richterin am Bundesverwaltungsgericht ernannt und lange unter anderem für das Umweltschutzrecht zuständig. Das Urteil von der höchsten Instanz ist für alle Beteiligten verbindlich.

Das Gericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat für die Herdecker Klage den großen Sitzungssaal vorbereitet. Sowohl dieser als auch das Gebäude sind geschichtsträchtige Orte, zumal dort das Reichsgericht von 1879 bis 1945 als höchstes Gericht des Deutschen Reichs in Zivil- und Strafsachen ansässig war. Der bekannteste Prozess dort war der Reichstagsbrandprozess von 1933. Historisch mutet auch die Gestaltung des großen Sitzungssaals an: Die Decken- und Wandvertäfelung aus Eichenholz zeigt die Wappen aller Gliedstaaten des damaligen Reichs, auch Porträts der Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. sind zu sehen. Aktuell gelten auch in diesem besonderen Raum ein Corona-Hygienekonzept und ein Mindestabstand. Im Zuschauerraum stehen somit insgesamt etwa 30 Plätze zur Verfügung.

Die Chancen

Sowohl die Bezirksregierung Arnsberg als auch Netzbetreiber Amprion blicken (wie berichtet) zuversichtlich nach Leipzig und gehen von einer Bestätigung des erfolgten Beschlusses inklusive Baugenehmigung aus. Während sie sich auf gesetzliche Vorgaben berufen und den bereits bestehenden Trassenraum als wichtigstes Argument für das Aufstellen neuer Masten anführen, sieht das die Kläger-Seite komplett anders. Sie bezweifelt einerseits die Notwendigkeit der Leitungen mit erhöhter Leistungskapazität, andererseits fordern die Protestierenden eine Verlegung an die Autobahnen A45 und A1, um Herdecker Wohngebiete zu schützen.

Bericht aus Leipzig

Die Lokalredaktion verfolgt die mündliche Verhandlung an diesem Dienstag im Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

Redakteur Steffen Gerber hat sich für den Prozess angemeldet. Trotz der Corona-Krise soll nun im dritten Anlauf endlich die Entscheidung fallen.

Viele Herdecker zweifeln derweil die Bedeutung der Verhandlung an. Frei nach dem Motto: Amprion baut doch schon seit Monaten, Masten stehen längst, wofür braucht es noch ein richterliches Urteil? Gleichwohl vertrauen viele der Unabhängigkeit der Justiz.

Die Belastung für Bürger ist auch für den renommierten Rechtsanwalt Heinz, der die Herdecker vertritt, ein wesentliches Einspruchs-Kriterium. Gleichwohl dürften die Kläger nur Außenseiter-Chancen haben: Es wäre ein Überraschung, sollte das Bundesverwaltungsgericht die Genehmigung kassieren.

Die Folgen

Falls die Leipziger Richter den Beschluss bestätigen, kann Amprion die 380-Kilovolt-Leitungen etwa am Schraberg und Semberg oder im Gahlenfeld weiter bauen. Der Netzbetreiber ist damit bereits seit einigen Monaten beschäftigt, da es in der eingereichten Klage aus Herdecke keinen Passus mit einer aufschiebenden Wirkung gab. Sollte das Bundesverwaltungsgericht das Vorhaben stoppen und den Klägern Recht geben, müsste das Dortmunder Unternehmen die neuen Masten und Leitungen wieder abbauen. Es kann aber auch Anpassungen und Änderungen – wie es in anderen Urteilen der Fall war (wobei dieses Verfahren mit anderen Prozessen wegen unterschiedlicher Umstände kaum vergleichbar ist) – verfügen.

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In jedem Fall schauen auch andere Bürgerinitiativen höchst interessiert nach Leipzig, gehört der Herdecker Trassenabschnitt doch zum Gesamtprojekt Dortmund-Dauersberg. Bis zur Landesgrenze in Rheinland-Pfalz regt sich beispielsweise auch in Hohenlimburg oder in Junkernhees im Kreis Siegen-Wittgenstein Widerstand gegen die Amprion-Pläne, die dort noch nicht so weit gediehen sind wie hier in der Stadt an den Ruhrseen.