Herdecke/Witten. . Amprion hat das Schutzgut Mensch bei der Trassenplanung in Herdecke zu wenig beachtet, sagen die Gegner der Höchstspannungsleitung.
- Im Verfahren um die Trasse für eine 380-KV-Leitung läuft der Erörterungstermin
- 250 Menschen diskutieren im Wittener Saalbau über die Herdecker Trassenführung
- Eingeladen hat die Bezirksregierung Arnsberg als Genehmigungsbehörde
Immer wieder Applaus, dazwischen Unmutsbekundungen: Beim Erörterungstermin zur geplanten Stromtrasse der Firma Amprion machen zahlreiche Herdecker deutlich, dass sie die 380-Kilovolt-Freileitung durch ihr Stadtgebiet ablehnen. Der Bezirksregierung Arnsberg als zuständige Genehmigungsbehörde und Leiterin der Versammlung im Wittener Saalbau wollen sie sowohl mit Wortbeiträgen als auch Plakaten verdeutlichen, dass der Netzbetreiber besser die Alternativstrecke entlang der Autobahn nutzen solle.
Der lange und anstrengende Tag beginnt um 9.40 Uhr. 165 von mehr als 900 Verfassern von Einwendungen sind erschienen, viele haben Vollmachten dabei und sprechen für ihre verhinderten Nachbarn oder andere. Mit Vertretern von Verbänden, Behörden und Amprion sind rund 250 Leute im Saalbau, viel Papier ist im Umlauf. Um 17.30 Uhr dankt Versammlungsleiter Werner Isermann von der Bezirksregierung für die sachliche Erörterung, was angesichts der Betroffenheit der Herdecker beachtlich sei.
Grundschüler haben Bilder gemalt
Die Bürger verdeutlichen über die Bürgerinitiative Semberg und die Prozessgemeinschaft Herdecke unter Strom mit Protest-Plakaten vor dem Eingang und im Saal, dass sie gegen den Trassen-Neubau sind. Videosequenzen aus einer Drohne verdeutlichen, wie nahe Leitungen an den Wohnhäusern vorbeiführen. Gemalte Bilder der Schraberg-Grundschüler, die nahe am möglichen 87-Meter-„Monstermasten“ liegt, unterstreichen das, was in der Debatte zum Vorschein kommt. In der zeigt sich, dass viele Herdecker das Schutzgut Mensch nicht ausreichend gewürdigt sehen und daher die Route an der A45/A1 dringend vorzuziehen sei. Das betont auch Bürgermeisterin Katja Strauss-Köster, die sich ebenso wie Fachanwalt Philipp Heinz für die 2400 Herdecker Betroffenen in der Nähe der Trasse und die 1500 Bürger direkt an der Leitung einsetzt.
In der Diskussion, die am Morgen noch im Zeichen der Träger öffentlicher Belange steht, greifen die Privateinwender nachmittags wegen drohender Gesundheitsrisiken und Wertminderung ihrer Grundstücke die Amprion-Planungen an. Der Netzbetreiber habe die Abstände von Wohnhäusern zur Trasse ungenau gemessen und die Autobahnalternative zu spät ins Blickfeld genommen, gewichte falsch oder beurteile aus veralteter Perspektive. Dem halten ein Dutzend Amprion-Mitarbeiter entgegen, dass sie nach gesetzlichen Grundlagen vorgehen.
Gegensätzliche Ansichten
Gut gegliedert, und doch gehen während der sieben Stunden im Saalbau Witten immer wieder Themen ineinander. Das Ansinnen ist klar: Hier Herdecker, die den Bau einer neuen 380-Kilovolt-Stromtrasse durch das Stadtgebiet verhindern wollen; dort Mitarbeiter des Netzbetreibers Amprion, die die Pläne auch für diesen elf Kilometer langen Abschnitt verteidigen. Mittendrin die Bezirksregierung Arnsberg, die die Erörterung moderiert und trotz einer immensen Fülle an konträren Argumenten einen Ausgleich anstrebt. Das gelingt bedingt.
Schon der Vormittag ist spannend. Vor den Themen für Träger öffentlicher Belange erläutert Ulrich Mußmann von der Amprion-Genehmigungsabteilung die Grundsätze des Antrags: Bei dem Neubau geht es um die Sicherstellung regionaler und überregionaler Stromversorgung auf einem vorhandenen Trassenraum, da so Leitungen gebündelt werden können. Dann geht es um leichte Planänderungen wie Mastverschiebungen.
Die vielen Herdecker im Saal, die sich zum Teil frei genommen haben, werden spürbar unruhiger und wünschen ein Vorziehen ihrer Belange. Die Bürgermeisterin erzählt von Gesprächen mit weinenden Anwohnern, die angesichts des Wertverlusts ihrer Häuser Angst um ihre Rente haben. Statt mittlerer sechsstelliger Beträge seien Wohngebäude demnach teils nur noch 50 000 Euro wert. „Wir müssen die Menschen und nicht andere Schutzgüter in den Mittelpunkt stellen“, sagt Katja Strauss-Köster in Anspielung auf die Autobahn-Variante. Zur Vorbelastung durch die bestehende Trasse meint sie unter lautem Applaus: „Wer eine Krankheit hat, der soll eine zweite dazu bekommen?“
Kritik von Fachanwalt Heinz
Fachanwalt Philipp Heinz vermisst eine genaue Gegenüberstellung der Betroffenen-Zahl an der A45/1 im Vergleich zu den ca. 1500 direkt an der Trasse lebenden Herdeckern (2400 wären wohl gesundheitlich beeinträchtigt) von Amprion. „Die bestehende Trasse muss laut Bundesverwaltungsgericht nicht per se Vorrang haben“, sagt der Berliner Jurist, der auch formale Planfehler am Ostender Weg sieht. Mit Blick auf die Zukunft und andere Lösungen wie Erdkabel sollten in der Ruhrstadt nicht für die nächsten 100 Jahre unumkehrbare Fakten geschaffen werden, an der Autobahn ließe sich viel besser darstellen.
Heinz fordert eine Anbindung des Koepchenwerks an die neu entstehende Umspannanlage Hagen-Garenfeld, damit die Verbindung durch Herdecke zum Anschlusspunkt Dortmund-Kruckel wegfallen kann. Während die Amprion-Juristen die Autobahn-Variante angesichts ihrer 72-seitigen Stellungnahme für ausreichend geprüft halten und wegen neuer Betroffenheiten ablehnen, betonen sowohl Versammlungsleiter Werner Isermann von der Bezirksregierung als auch die Mitarbeiter des Antragstellers die gesetzlichen Grundlagen. Dazu gebe es von der Bundesnetzagentur als höchste Instanz Prognosen, hinzu komme der aktuelle Netzentwicklungsplan bis 2030. „Wir sind zum Ausbau verpflichtet“, sagt Amprion-Anwalt Ben Parakenings. Käme die A45 bzw. A1 zum Zuge, gebe es durch verbleibende Leitungen in Herdecke weiter Belastungen.
Dem halten Bürger die Belastungen für Kinder der Grundschule Schraberg oder der Kita Sperlingsweg entgegen. Auch habe sich Amprion viel zu früh auf die Bestandstrasse festgelegt. Zudem seien Freileitungen eine im Vergleich etwa zu Erdkabeln „steinzeitalterliche Technik“. Streit gibt es noch darüber, ob es sich hier um eine komplett neue Trasse mit dann neuen Abstandsbestimmungen oder wegen der vorhandenen Leitung um gleich bleibende Zumutbarkeiten handelt. Das Ehepaar Gisela und Wolfgang Heuer merkt an, dass Amprion für ihr Haus zwei unterschiedliche Abstands-Entfernungen zur Trasse mitgeteilt habe. Daraufhin melden sich weitere und bestätigen widersprüchliche Meter-Angaben. Daher fordert Isermann die Antragstellerin zur eindeutigen Klarstellung auf. „Wenn es Messfehler gibt, können wir anderen Ausführungen Amprions trauen?“, fragt eine Bürgerin.
Nicht nur diesbezüglich heißt es: Fortsetzung folgt. Mit der Debatte über die Autobahn-Variante endet ein aufwühlender erster Tag.